Freudenberg, Karl Johann, Chemiker

 

*29.01.1886, Weinheim, ev., +3.04.1983, Heidelberg
 
Eine etwas verkürzte Version wurde in den "Baden-Württembergischen Biographien", Bd. III (2002), S. 87-90 publiziert 

 

V Hermann Ernst F. (1856-1923), Fabrikant in Weinheim 
M Helene geb. Siegert (1855-1939) 
G Hermann Ernst F. (1881-1920); Auguste (Gustel) Elisabeth, verh. Hartwig (1884-1946); Hans Werner Paul F. (1888-1966); Helene (Leni), Johanna, verh. v.Mechow (1889-1917); Otto Helmut F. (1890-1940); Richard Wilhelm Eduard F. (1892-1975); Adolf Emil F. (1894-1977); Sophie Dorothea F. (1896-1963); Elsbeth Mathilde Maria, verh. Weiß (1900-1986)

oo in Bonn 30.07.1910 Doris Nieden (1887-1967) 
K Susanne F. verw. Merton, verh. Kraft (1911-1985); Hermann Adolf (1913-1940); Regine Doris verh. Jensen (geb. 1914); Herta verh. Plieninger (geb. 1916); Klaus F. (1918-1941)

 

 

1893-1896                                       Grundschule in Weinheim 
1896-1902                                       Realgymnasium in Weinheim 
1902-1904                                       Goethe-Gymnasium zu Frankfurt a.M. 
1904 IV - 1905 VIII                           Universität Bonn 
1905 X  - 1906 IX                            Militärdienst (5. Schwadron der gelben Ulanen

                                                           in Ludwigsburg) 
1906 X - 1907 VIII                            Universität Bonn 
1907 X - 1910 IV                              Studium der organischen Chemie, Univ. Berlin 
1910 VI 15                                        Promotion zum Dr. phil. magna cum laude;   

                                                           Diss. "Über Depside - Esteranhydride der

                                                           Phenolcarbonsäuren" 
1910 VII - 1914 III                             unbezahlter Assistent am Chemischen Institut

                                                           der Univ. Berlin. 
1914 IV 1                                          Assistent an der Univ. Kiel 
1914 VII 16                                       Privatdozent ebd.. Probevortrag "Entwicklung

                                                           der Gerbstoffchemie" 
1914 VIII - 1917 XII                          Kriegsteilnehmer; EK II und I Kl. 
1918 I - 1918 X                                Lehrer und Leiter der Unteroffizierskurse an

                                                           der Heergasschule, Berlin 
1920 XII 12                                       Privatdozent für Chemie an d. Univ. München;

                                                           Probevorlesung "Über Depside und

                                                           Gerbstoffe" 
1921 X - 1922 IX                              planmäßiger a.o. Prof. an d. Univ. Freiburg 
1922 X 1 - 1926 III 31                      o.Professor und Direktor des chemischen

                                                           Instituts an der TH Karlsruhe 
1926 IV - 1956 IX                             Dasselbe an der Universität Heidelberg 
1929/30 und 1945/46                      Dekan der Naturwiss.-math. Fakultät 
1931 II-VI                                           Gastprofessor an d. Univ. Wisconsin, U.S.A. 
1949/50, 1950/51                            Rektor bzw. Prorektor der Universität

                                                           Heidelberg 
1951 I 28 - 1956 XI                          Stadtrat in Heidelberg


F. stammte aus der Familie, die die höchste ethische Standards hatte, was auch sein Leben prägte. Vermögen und Unterstützung des Vaters machten es möglich, dass F. nicht nur eine gute Ausbildung und danach gute Studienbedingungen bekam, sondern auch durch die ersten Stationen seiner akademischen Laufbahn ohne bedeutende finanzielle Probleme gehen konnte. überdies erlaubte es ihm eine ziemlich frühe Ehe, die sehr glücklich war. Als sein langes Leben fast vollendet war, konnte F. sagen: "Ich bin seit mehr als 70 Jahren aus dem engeren Verband des Elternhauses entlassen und habe alle die Jahrzehnte und bis heute eine Geborgenheit empfunden, die weit über den materiellen Rückhalt hinausging, dessen ich teilhaftig sein durfte".


Die Schulzeit gab F. eine gute humanistische Bildung; sein weites kulturelles Interesse bewahrte er bis ans Lebensende. Die Naturwissenschaften begann er dagegen erst in der Universität Bonn zu erlernen und zu studieren. Chemie wählte er als Hauptfach. F.'s erster Lehrer war Hans Meerwein, der in ihm ein Interesse für die organische Chemie weckte. Da F. Bonn nicht für eine gute Schule hielt, wechselte er nach Berlin, wo, dank einer Empfehlung, der berühmte Emil Fischer ihn als Doktoranden annahm. Bei diesem überaus anspruchsvollen Lehrer lernte F. "Geduld, Beharrlichkeit und Ehrfurcht vor der unerbittlichen Natur". Von Fischer bekam F. den ersten Anstoß zur selbständigen Forschung der "Naturstoffe"; F.'s Promotionsdissertation wurde zum Keime einer Reihe von Arbeiten über Tannin und seine Konstitution, die er als unbezahlte Assistent Fischers erfolgreich durchführte. Als F. aber erfasste, daß er unter Fischers Einfluß kein eigenständig denkender Forscher werden könne, suchte er, mit Einverständnis Fischers eine andere Universität und fand diese in Kiel.

 

Sein Privatdozentenprobevortrag fiel auf den 14. Juli 1914... Bald wurde F. als Reserveoffizier in Nordfrankreich eingesetzt, wo er bis Ende 1917 blieb. Danach wurde F. dank E. Fischers Bemühungen nach Berlin zum Gasdienst abkommandiert. Nach Kriegsende kehrte er zu seinen unterbrochenen Forschungen zurück, die er in seinem ersten, seinem "Vater zugeeigneten" Buch "Die Chemie der natürlichen Gerbstoffe" 1920 zusammenfasste. Bereits in Kiel ging F. von Tannin zur Cellulose über und begann seine Struktur zu entziffern.

 

Die Umstände in Kiel waren nicht günstig, so bemühte sich F., eine bessere Stelle zu finden, und zwar an der Universität München, wo der damals bedeutendste deutsche Organiker R. Wilstätter arbeitete. Nach der Umhabilitation (als Habilitationsschrift wurde das obengenannte Buch vorgestellt) bekam F. die venia legendi und danach einen Professorentitel. "Das Jahr in München ist das produktivste meines Lebens gewesen und wirkte über Jahrzehnte auf meine Arbeiten nach",- bezeugte F. im Alter. Er fand eine passende Arbeitsmethode für das Entziffern der Struktur der Cellulose und das Polymerisationsprinzip dieses Stoffes. 1928 konnte F. die Struktur der Cellulose - eine aus Glukoseeinheiten aufgebaute hochmolekulare Kette - als bewiesen publizieren. Weltanerkannt wurde sie erst etwa drei Jahrzehnte später - so kompliziert und strittig war das Problem.


Schon im Sommer 1921 bekam F. einen Ruf nach Freiburg auf die Stelle eines etatmäßigen a.o. Professors im chemischen Institut H. Wielands. Auch in Freiburg blieb F. nur ein Jahr, das aber sehr lehrreich besonders vom Standpunkt der Organisation der Arbeit und des Lebens eines chemischen Instituts war. In Freiburg begann F. die Struktur eines anderen hochmolekularen Stoffes des Holzes, nämlich Lignin zu erforschen. Etwa dreißig Jahre akribischen, oft undankbaren Arbeitens brauchte es, um 1952 den richtigen Weg zu finden, auf dem, nach weiteren 12 Jahren die Lösung erreicht wurde. "Ich habe nicht aus Ehrgeiz gehandelt, sondern aus dem unbezwingbaren Drang, zu suchen und zu finden",- erklärte F. im Jahre 1981.


Aus Freiburg wurde F., dank der Initiative des bekannten badischen Hochschulreferenten Dr. V. Schwoerer, zum Ordinarius an der TH Karsruhe berufen. Hier vertrat er eine damals vieldiskutierte Linie: Die Chemie-Ingenieure sollten eine gute allgemeine und weite chemische Bildung erhalten. Das Jahr 1923 mit seiner Inflation konnte F. sehr erfindungsreich bestehen; nun hatte er ein modernes Institut. Nur ungern nahm er eine Berufung an das erschreckend veraltete Chemische Institut der Universität Heidelberg an.


In Heidelberg konnte F. einen erstaunlich großen Umfang organisatorischer Arbeiten, d.h. die räumliche und die personelle Umgestaltung durchführen. Mühsam erreichte er für sein Institut neue Gebäude und Räume mit notwendigen Einrichtungen - z.B. Elektrizitäts- statt Gasbeleuchtug. Gleichzeitig gewann er frische Kräfte (insbesondere K. Ziegler und W. Hieber) und trennte sich von jenen, die nicht passten. Dabei war Rücksichtnahme und Gerechtigkeit gegenüber anderen die allgemeine Grundhaltung F.'s. So erreichte er das Ziel - "eine Equipe selbständig arbeitender Dozenten zu versammeln, deren jeder die anderen anregte und den Doktoranden vielseitige Arbeitsgebiete erschloss".


Eigene Arbeiten F.'s, teilweise mit dem Physikochemiker W. Kuhn, ergaben dann die Aufklärung der Struktur nicht nur der Cellulose, sondern auch des anderen wichtigen Polysaccharids, der Stärke. Dabei wurden neue stereochemische Regelmäßigkeiten gefunden. Die ersten glücklichen Jahre in Heidelberg wurden durch das große Kollektivwerk "Stereochemie" gekrönt, das F. 1933 herausgab und das für Jahrzehnte zum Standardwerk wurde.


Danach folgte die harte Zeit zähen Bestehens im Dritten Reich. Vergeblich versuchte F. gegen die Entlassung der Juden zu kämpfen, u.a. aufgrund der These, daß es "eine einheitliche arische oder deutsche Rasse nicht gibt"; "ebensowenig gibt es eine einheitliche judische Rasse". (Schreiben F.'s vom 15. Apr.1933). Auch seine Bemühungen, das normale Fakultätsleben vor dem Verfall zu retten, wurden "jedoch untergraben durch Geheimhaltung von Absichten und Entschlüssen, welche die Lehrstuhlinhaber und die Gesamtheit der Fakultät angehen"- so F. an den Dekan 18. Jan 1943.


Eine wichtige Hilfe für F. kam, als 1938 das "Vierjahresplan-Forschunsinstitut" für Holz und Polysaccharide bei ihm organisiert wurde, das dem Reichsamt für Wirtschaftsausbau unterordnet war. Das erlaubte ihm, einige seiner Arbeiten fortzusetzen und mehreren Menschen, auch nichtarischen unter diesem Dach zu helfen. "Alles war Lüge im Naziregime.... Wer im Amt stand, mußte durch kleine Konzessionen die Aktionsfreiheit im Großen erkaufen",- gab F. 1946 zu.


Nach dem Krieg gehörte F., als Mitglied, später als Vositzender des "Dreizehnerausschusses" und als Dekan zu der engen Phalanx von denen, die die Wiedergeburt der Universität verwirklichten. Das Jahr 1946 war für F. sehr kompliziert, weil er, wegen einer falschen Denunziation, dass er angeblich aktiver Helfer des Naziregimes sei, für einige Tage verhaftet wurde. Er musste das Verfahren vor der Spruchkammer und dem Gericht der amerikanischen Okkupationsbehörden durchstehen und wurde schließlich mit dem Urteil "Not guilty" freigesprochen.


Die darauffolgenden Jahre waren von großen organisatorischen Leistungen erfüllt: F. hatte längst baureife Pläne für einen Neubau des Chemischen Institutes im Neuenheimer Feld (im nördlichen Teil der Stadt) erarbeitet. Er konnte sie bereits 1950 den Ämtern und Behörden vorlegen und in äußerst zähen Verhandlungen die Einwilligung und Geldzuweisungen erreichen. So war er der Zweite, der nach Chirurgie im noch völlig unbebauten Neuenheimer Feld einen Institutsneubau verwirklichen konnte.


Als F. mit 70 Jahren emeritierte, konnte er sich ausschließlich seinen chemischen Arbeiten im Holzinstitut widmen; damals wurde die Struktur des Lignins geklärt (1964)! Erst 1969 verließ der alte Wissenschaftler die Leitung des Holzinstituts, blieb aber aktiv als Familienhistoriker: er gab die dreibändigen "Schriften der Familie Freudenberg in Weinheim" heraus. Danach schrieb er noch seine inhaltsreichen "Lebenserinnerungen", die er mit 95 Jahren beendete.

 

F.'s Erbe ist umfangreich: Knapp 570 Publikationen, 10 Patente und außerdem Tausende von unpublizierten Briefen und Schreiben spiegeln einen wichtigen Teil der Geschichte deutscher Wissenschaft wider. Klassisch wurden seine Forschungen über hochmolekulare Naturstoffe - Cellulose, Stärke, Lignin. Sein übriges chemisches Schaffen, wie Arbeiten in der Stereochemie lassen F. als Mitbegründer der organischen Stereochemie gelten. Auch die Entdeckung einer neuen Klasse von Stoffen, sog. Einschlußverbindungen, räumten ihm einen Ehrenplatz in der Geschichte der Chemie ein.


Auch als Organisator der Wissenschaft war F. groß. Außer den schon erwähnten Leistungen war er vielseitig tätig. So machte F. während 1953-1974 in seiner Eigenschaft als Mitglied der Schwedischen Akademie der Wissenschaften jährliche Vorschläge für die Nobelpreise in Physik und Chemie. Als geschäftsführender Sekretär der Heidelberger Akademie der Wissenschaften sorgte er zielstrebig für die Bewahrung von schriftlichen und materiellen Denkmalen der Wissenschaft. (Z.B fand er Reisebriefe Bunsens und gab sie heraus.)


Endlich erwarb sich F. als Lehrer und Förderer der Jugend große Verdienste. Sein methodisches System, Anfängern die Grundlagen des Faches zu vermitteln (was in seiner "Organischen Chemie" publiziert wurde), Prüfungen durchzuführen, selbständiges Arbeiten zu unterstützen, vor allem aber seine menschlichen Eigenschaften machen ihn zu einer leuchtenden Persönlichkeit in der Geschichte deutscher Hochschulen.

 

 

Q UA Heidelberg (Rep.14 - Nachlaß F.'s; PA 3801 bis 3805; Verhandl. d. Nat.-math. Fak., 1931/32 -1934/5); UA Karlsruhe (O 1/50); A d. Heidelberger Akad. Wiss. (1.11 - Freudenberg); A d. Firma Freudenberg, Weinheim (Auskünfte; Lebenserinnerungen F.'s); UB Heidelberg (Hs 3680; 69 C 775; 70 B 316); StadtA Heidelberg (Auskünfte).

 

W Über die Carbomethoxyderivate der Phenolcarbonsäuren und ihre Verwendung für Synthesen (mit E. Fischer), Ann. Chem., 1910, 372, 32-68; Zur Kenntnis der Cellulose, Ber. Dt. Chem. Ges., 1921, 54, 767-772; Nachtrag zu der Mitteilung über Methylcellulose, Ann. Chem., 1928, 461, 130-131; Konfigurative Zusammenhänge optisch aktiver Verbindungen, In: "Stereochemie. Eine Zusammenfassung der Ergebnisse, Grundlagen und Probleme in Einzeldarstellungen. Hrsg. von K. F." Leipzig-Wien, 1933, S. 662-720; Tannin, Cellulose, Lignin, Berlin, 1933; Organische Chemie, Leipzig, 1938 (13. Aufl. mit H. Plieninger - 1977); Theodor Curtius, 1857-1928, Chem. Ber. 1963, 96, Nr.4, S. I-XXV; Von Emil Fischer zur molekularen Konstitution der Cellulose und Stärke, Ibid. 1967, 100, Nr. 12, S. CLXXII-CLXXXVIII; (mit A. C. Neish) Constitution and Biosythesis of Lignin, Springer, 1968; Schriften der Familie Freudenberg in Weinheim, Bd.I-III, 1969-1976; Rückblicke auf ein langes Leben. Lebenserinnerungen ...hrsg. von Herta und Peter Plieninger. Heidelberg, 1999.

 

K. F. zum 70. Geburtstag, Angew. Chemie, 1956, 68, Nr. 3 (B); K. F. zum 80. Geburtstag, Holzforschung, 1966, 20, H. 1 (B); H. Schildknecht, K. F. 90 Jahre alt, in: Ruperto Carola H. 57, 1976, 105; Fr. Cramer, Leben und Werk von K. F., Heidelberger Jahrbücher, 1984, 28, 57-72 (B); D. Mißgnug, K. F. - Lebenserinnerungen, Ibid., 1988, 32, 151-187; G. Wilke, K. F., Semper Apertus: Sechshundert Jahre Univ. Heidelberg, Festschrift, 1985, Bd. II, S. 351-358 (B); T. S. Stevens, K. J. F. 1886-1883, Biographical Memoirs of Fellows of the Royal Society, 1984, XXX, 167-189 (B); R. Huisgen, K. F. +, Jb. Bayer. Akad. Wiss., 1984, 249-249 (B).Klaus Weinges, Peter Plieninger: Erinnerungen an Karl Johann Freudenberg (1886-1983). European Journal of Organic Chemistry, 1999, p. 707-736.

 

J. Chem. Educ. 1951, 28, 426; s. L; Nachr. aus Chemie u. Technik, 1956, 4, 34; Schriften der Familie F. in Weinheim, Bd. II und III; UA Heidelberg (Rep. 14, Nr. 014.14); A der Firma Freudenberg