Lesser, Ernst Josef, Physiologe, Biochemiker
7.12. 1879, Stettin, isr., gest. 1.03.1928, Mannheim
V Adolf L., Seidenhändler; M Emma L.; G ?
∞ 1907 in Straßburg Marianne Knapp (1879-1966), Malerin; K keine
1889 IV - 1898 IV Besuch des Marienstiftsgymnasiums zu Stettin
1899 V - 1903 V Studium Medizin an den Univ. Freiburg (SS
1898, SS 1899, WS 1899/1900), Berlin (WS
1898/99) u. München (SS 1900- WS 1902/03)
1903 VI 30 Promotion magna cum laude an d. Univ.
München; Diss.: "Über Ernährungsversuche mit
den Endprodukten peptischer u. tryptischer
Eiweissverdauung"
1903 VI - 1904 VII Assistent am Kinderhospital Altona-Hamburg
1904 IX - 1905 XII Studium Chemie an d. Universität München
1906 I Assistent am Physiologischen Institut d.
Universität Halle
1907 I Habilitation ebd.; H.-schrift: "Über die
elektromotorische Kraft des Froschhautsstroms
u. ihre Beziehungen zur Temperatur";
Antrittsvorlesung: "Tierische Fermente"
1910 III Umzug nach Mannheim. Vorläufige Anstellung
als Leiter des Laboratoriums d. städtischen
Krankenanstalt; Beurlaubung in Halle
(Ausscheiden 1912 X)
1912 IV Etatmäßige Anstellung in Mannheim
1914 XII - 1916 XI Truppenarzt in Mazedonien
1918 II - XI Vertretung des o. Professors für Physiologische
Chemie an d. Univ. Straßburg
1918 XI Entlassung aus dem Heer u. Rückkehr nach
Mannheim
1927 IX Teilnahme an d. 7. Versammlung d. Deutschen.
Parmakologischen Ges. in Würzburg mit dem
Hauptreferat
Über L.s Familie und seine frühen Jahre haben wir äußerst wenig Informationen. Bekannt ist, dass seine Eltern aus dem Durchschnittsbürgertum herausragten. Sein Vater nahm an den Kriegen von 1866 und 1870/71 teil und wurde zum Leutnant befördert - damals ein seltener Fall bei einem Juden. Seine Mutter hatte das Lehrerinnenexamen abgelegt - ebenfalls eine ungewöhnliche Charakteristik.
L. besuchte und beendete ein altes Gymnasium seiner Heimatstadt, um anschließend Medizin in Freiburg, Berlin und zuletzt in München zu studieren, wo sein Lehrer und Doktorvater Carl von Voit (1831-1908), ein Begründer der Stoffwechselphysiologie, sein besonderes Interesse zu wissenschaftlicher Arbeit im allgemeinen und speziell zur Physiologie eingeprägt hatte.
Nach der Promotion praktizierte L. in der Kinderklinik Altona, erkannte aber bald, dass die wissenschaftlichen Grundlagen der Medizin ihm viel wichtiger waren, als eine rein praktisch ärztliche Tätigkeit. So kehrte er nach München zurück, um sich, so er selbst, "gründlich in Chemie, physikalischer Chemie und Physik auszubilden". Er bekam in dieser Hinsicht die Unterstützung seines älteren Bruders. Im März 1905 bestand L. das Vorexamen im Fach Nahrungsmittelchemie und arbeitete weiter bei Voit, der ihn hoch schätzte.
In München lernte L. seine zukünftige Frau Marianne kennen, eine Tochter des angesehenen Straßburger Professors Georg Friedrich Knapp (1842-1926); in München studierte sie Kunst. Es musste eine übermächtige Liebe gewesen sein, die soziale und konfessionelle Trennwände zu überwinden vermochte.
Anfang 1906 erhielt L. eine Assistentenstelle am Physiologischen Institut der Universität Halle. Beim Ordinarius der Physiologie Julius Bernstein (1839-1917), dem Experten für tierische Elektrizität, schloss L. in wenigen Monaten seine Habilitationsarbeit in diesem für ihn neuen Gebiet ab; bereits Anfang 1907 konnte er sich habilitieren. L.s blitzschnelle Habilitation, die seine enorme Arbeitsfähigkeit demonstrierte, wurde wahrscheinlich vor allem dadurch stimuliert, Schranken auf dem Weg zur Heirat zu durchbrechen. Endlich durfte er Hochzeit in Straßburg feiern.
Als Privatdozent las L. über "Vergleichende Physiologie des Stoffwechsels", "Tierische Wärme", "Die Grundlagen der physikalischen Chemie und ihre Anwendung auf Medizin und Physiologie", zuletzt auch über "Physiologische Chemie". Gleichzeitig begann er seine eigenen Forschungen über Fermente im Zusammenhang mit dem Kohlenhydratstoffwechsel. Von besonderer Bedeutung war seine grundlegende Entdeckung, dass die Vorräte des Glykogens, der hochaufgebauten "Magazinform" des Zuckerbrennstoffs, durch Scheidewände innerhalb der einzelnen Leberzelle vor vorzeitigen Zugriff der spaltenden "Werkzeuge", nämlich der diastatischen Fermente der Zelle geschützt sind. Fragen der Beständigkeit des Glykogens in der Leber und dessen Umwandlungen wurden allmählich sein Hauptarbeitsgebiet: mehr als zwei Drittel von etwa 60 wissenschaftlichen Publikationen L.s sind ihm gewidmet.
In Halle freundete sich L. mit dem bekannten Chemiker Professor Jacob Volhard (1834-1910) an, er half ihn beim Kapitel "Tierchemie" für Volhards große Biographie über Justus Liebig. Dessen Sohn, der Mediziner Franz Volhard (s. dort) bekam 1908 den einzigartigen Ruf der Stadt Mannheim, ein neues Klinikum für 1200 Betten aufzubauen und zu leiten. Nach einem Jahr gründlicher Veränderungen im alten Krankenhaus (damals in R5) gelang es Fr. Volhard, die Genehmigung der Stadt für die Einrichtung eines Laboratoriums und für die hauptamtliche Anstellung "eines Physiologen mit physiologisch-chemischer Ausbildung" als dessen Leiter zu erreichen. Auf diese Stelle nun wurde L. berufen und er hatte sie bis zu seinem Tod inne.
Schon 1910 konnte L., mit voller Unterstützung Volhards, aus dem Nichts heraus ein funktionierendes Laboratorium schaffen, von der Umgestaltung der Räume bis hin zur Einrichtung der Apparaturen für biochemische Analysen und Forschungen.
Bereits im Laboratoriumsbericht für 1910 ist das Problem "Diabetes" im Zusammenhang mit der begonnenen Forschung über "Zuckerstoffwechsel" erwähnt. Bald wandte sich L. direkt dem Problem der Regulation der Blutzuckerkonzentration zu. Es gelang ihm einen "besonders hergestellter Pankreasextrakt" zu entwickeln, "Glukopausin" genannt, der außerordentlich effektiv den Blutzuckergehalt bei den Versuchstieren (Frösche) unterdrückte, was z. B. Professor Jakob Parnas (1884-1949) aus Lemberg bezeugte. Überliefert ist auch, dass L. seinen Extrakt erfolgreich bei einem zuckerkranken Verwandten in Stettin anwandte. Im August 1914 schrieb Marianne L. an seinen Vater, dass Ernst aufgrund seiner Experimente sicher sei, ein Mittel gegen Diabetes gefunden zu haben. L. selbst plante, den Wirkstoff seines Extrakts zu isolieren und danach die Ergebnisse zu publizieren.
Das verhinderte der Kriegsausbruch. L. ging freiwillig zum Militär, nicht weil er durch den allgemeinen patriotischen Rausch hingerissen worden wäre, sondern weil er es für unfair hielt, hinter den Rücken anderer geborgen zu bleiben. Für den Militärdienst untauglich; wurde L schon 1903 in München bei seinem Versuch, als Einjähriger-Freiwilliger der Militärpflicht zu genügen, wegen des fehlenden Sehvermögen des einen Auges zurückgewiesen. So wurde L. Truppenarzt und blieb in dieser Eigenschaft zwei Jahre in Mazedonien bis ein schwerer Paratyphus ihn ins Lazarett zwang. Nach mehreren Monaten der Krankheit benutzte L., noch als "Oberarzt der Landwehr" seinen Erholungsurlaub, um den erkrankten Ordinarius für Physiologie an der Universität Straßburg zu vertreten. Als die Stadt durch die Franzosen besetzt wurde, sollte L. nach Mannheim zurückkehren.
Die Verhältnisse für die Forschung waren nicht günstig. Zudem war L.s dringende Aufgabe die Planung, Einrichtung und Inbetriebsnahme des neuen zweistöckigen physiologisch-chemischen Laboratoriums für den Neubau des Klinikums auf dem Neckarufer, der im Juli 1922 eingeweiht wurde. Es gilt als bahnbrechend, dass L. als einer der ersten die kommunalen Behörden dazu bewegte, mit den großen kommunalen Krankenanstalten vollwertige Forschungslaboratorien zu verbinden, in Mannheim heute: Klinisch-Chemisches Institut). Hier zeigte sich das große organisatorische Talent L.s.
Inzwischen wurden seine Forschungsergebnisse in dem kriegsverschonten Kanada überholt: 1921 entdeckte Fred Banting das Insulin (Nobelpreis 1923). Sehr charakteristisch für L. war, der sich immer sehr zurückhaltend verhielt, dass er seine unveröffentlichten Ergebnisse nie im Druck erwähnte. Dagegen begann er, intensiv den Wirkungsmechanismus des Insulins zu erforschen und trat in lebhaften Briefwechsel mit Banting und vielen anderen Wissenschaftlern weltweit. Das erste Insulin für seine Versuche erhielt L. eben aus Kanada. Bald wurde er zu einem führenden Experten für diesen Bereich.
In den zwanziger Jahren genoß L. als Forscher von bedeutendem Format einen internationalen Ruf in der Fachwelt. Eine seiner als klassisch geltenden Arbeiten gehört zu den "wahren Juwelen der Experimentalphysiologie", so in der Literatur. Als Forscher war L. außerordentlich selbstkritisch. Nur wenige Gelehrte in der Geschichte der Naturwissenschaft waren wie er fähig zu einer Aussage wie z. B.: Die weiteren Experimente "haben die seinerzeit von uns geäußerte Meinung in keiner Weise bestätigt". Seine Veröffentlichungen zeichnen sich durch hohe Experimentalkunst, exakte Beobachtung und scharfsinnige, tiefblickende Interpretationen aus.
L. war ein Mann von sehr aktiver Lebenseinstellung, er war rastlos tätig nicht nur in seiner Wissenschaft, sondern auch im Leben der Gesellschaft als verantwortlicher Staatsbürger. So diskutierte er lebhaft politische Fragen im Briefwechsel mit seinem Freund und Schwager Theodor Heuss. Auch mit Max Weber, dessen geschichtliche Betrachtungsweise er teilte, war L. befreundet. Nach dem Kapp-Lüttwitz-Putsch (1920) trat L. der Sozialdemokratischen Partei bei. Er studierte und propagierte die Lehre von Karl Marx; zum Marx' 40. Todestag hielt er eine Gedächtnisrede. In der Mannheimer SPD beschäftigte sich L. insbesondere mit dem "Wohnungselend" und bemühte sich, konkrete Maßnahmen dagegen zu erarbeiten.
Auch in der jüdischen Gemeinde Mannheims war L. tätig, obwohl, wie der ehemalige Mannheimer Rabbiner Max Grünewald (1899-1992) bezeugte, L. "keinerlei Bindung an das religiöse Judentum" hatte. Er war weltlicher Mensch und trat für soziale und nationale Gerechtigkeit in dieser Welt ein. L. verfügte über ein ausgeprägtes Nationalgefühl (bereits in seiner Studentenzeit in Freiburg kam es zu einer Mensur wegen antisemitischer Bemerkungen eines Studenten) und war ein überzeugter Zionist. 1914 besuchte er mit seiner Frau Palästina, um die Gründung der Hebräischen Universität vorbereiten zu helfen. "Die ganze Sache [des Zionismus] scheint ja unmöglich und doch muss sie gemacht werden", so L.. Mit 40 Jahren erlernte L. Hebräisch, um Quellen im Original lesen zu können. In der jüdischen Gemeinde Mannheims nahm L. an der Gründung des "Israelitischen Gemeindeblatts" teil und schrieb mehrmals für diese Zeitschrift. Er war auch eine der Triebkräfte bei der Ausgestaltung des Vortragswesens der Gemeinde.
Überhaupt ist es auffallend, wie viele verschiedenartige Vorträge L. allenthalben hielt. Er war ein begnadeter Lehrer, und seine Mitarbeiter schätzten dies sehr hoch. Eine reguläre Lehrtätigkeit war ihm aber nicht vergönnt. Zweimal hatte ihn der Professorentitel knapp verpasst. Zuerst 1918 in Straßburg, wo die medizinische Fakultät dies schon entschieden hatte, aber die Formalitäten wegen der Besetzung der Stadt nicht erledigt werden konnten. 1928 hatte man in Frankfurt vor, L. als o. Honorarprofessor zu berufen, die Entscheidung fiel auf den Tag seines Todes: L. starb ganz unerwartet an den Folgen einer kleiner Halsoperation. Zum Gedenken an L. wurde ein besonderer Band der "Biochemischen Zeitschrift" mit zahlreichen Beiträgen seiner Freunde und Fachgenossen herausgegeben.
In der Geschichte der Physiologie und Endokrinologie wie auch in der Geschichte der Stadt Mannheim bleibt L. eine bedeutende und leuchtende Figur.
Q UA München: G-IX-7, Bd. 18, Nr. 7044 (Diplom L.s); Auskunft vom 1.07.2008; UA Halle: PA Nr. 10048 (Personalakte L.), Auskunft vom 29.04.2008; StadtA Mannheim: Zug. 20/1969 Nr. 11137 (Personalakte L.); Auskunftakten E1-E3, Zug. 15/2002, Nr.1 u. Nr. 59; S1/1546 (Biogr. Sammlung L.).
W Über Stoffwechselversuche mit den Endprodukten peptischer u. tryptischer Eiweißverdauung, in: Zs. für Biologie 45, 1904, 496-510; Zur Kenntnis d. Katalase, in: ebd. 48, 1906, 1-18, 49, 1907, 575-583; Von d. Gärung u. den Fermenten, in: Aus d. Natur 3, 1907/1908, 615-622; Das Leben ohne Sauerstoff, in: Ergebnisse d. Physiologie 8, 1909, 734-796; (mit H. v. Hoesslin) Die Zersetzungsgeschwindigkeit des Nahrungs- u. Körpereiweißes, in: Zs. für physiologische Chemie 73, 1911, 345-364; Das Verhalten des Glykogens d. Frösche bei Anoxybiose u. Restitution, in: Zs. für Biologie 56, 1911, 466-501, 60, 1913, 388-398; Pankreasdiabetes, in: Dt. med. Wochenschr. 40, 1914, 931; Die Wechselbeziehung zwischen Glykogen und Traubenzucker in der Leberzelle und ihre Bedeutung für die Lehre vom Pankreeasdiabetes, in: Ergebnisse d. inneren Medizin u. Kinderheilkunde 16, 1919, 279-301; Über das Wesen des Pankreasdiabetes, in: Biochemische Zs. 103, 1920, 1-18; Über Ursprung, Schicksal u. Höhe des Blutzuckers, in: Die Naturwissenschaften 11, 1923, 422-425; (mit E. Bissinger u. K. Zipf) D. Mechanismus d. Insulinwirkung, in: Klinische Wochenschr. 2, 1923, 2233f.; D. Gaswechsel d. Maus nach Injektion von Zuckerlösungen u. Insulin, in: Biochemische Zs. 153, 1924, 39-60; Das prophetische Wort, in: Israelitisches Gemeindeblatt [Mannheim] 2, 1924, Nr. 4, 4f.; Von d. Utopie zur Wirklichkeit, in: ebd., Nr. 8, 5f.; Methodik d. anoxybiotischen Versuche an mehrzelligen Tierarten u. pflanzlichen Organismen, in: Hb. d. biologischen Arbeitsmethoden, Abt. 4, Teil 9, 1925, 718-728; Pankreas u. sein Sekret, in: Hb. d. Biochemie des Menschen u. d. Tiere, 2. Aufl., Bd. 4, 1925, 577-594; Die innere Sekretion des Pankreas, in: ebd., Bd. 9, 1927, 159-228; (mit E. Bissinger) D. Kohlehydratstoffwechsel d. Maus nach Injektion von Zuckerlösungen u. von Insulin, in: Biochemische Zs. 168, 1926, 398-420; Untersuchungen über Diastasesekretion I., in: ebd. 184, 1927, 124-146; Zum 250. Todestage des Spinoza, in: Israelitisches Gemeindeblatt [Mannheim] 5, 1927, Nr. 2, 3-5; Liver diastase, in: The Biochemical Journal 21, 1927, 1128; Zur Genese d. diabetischen Hyperglykämie, in: Klinische Wochenschr. 7, 1928, 25f.; D. Wirkungsmechanismus des Insulins, in: Verhandll. d. Dt. Pharmakologischen Ges., 7. Tagung, 24-33 (gedruckt in Archiv für experimentelle Pathologie u. Pharmakologie, Bd. 128, 1928); (L.+ u. R. Ammon) Die Kohlehydratstoffwechsel d. weißen Maus mit u. ohne Insulin. IV., in: Biochemische Zs. 202, 1928, 294-298.
L Poggendorffs Biographisch-literarisches Handwörterbuch VI, Teil 3 (1938),
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B StadtA Mannheim: NL Volker Klingmüller, Zug. 27/2006, Nr. 11 (Zahlreiche Photos 1907-1927); Photo 1927 in: Kattermann, S. 60 (Vgl. L); Büste, Bronze, 1929 von Richard Scheible, in d. Bibliothek des Klinisch-Chemischen Instituts des Uniklinikuns Mannheim; Photos d. Büste in: Loewe (1930); R. Ammon (1968), S. 33, Kattermann, S. 76 (Vgl. L)