Kirschner, Martin, Chirurg

* 28.10.1879 Breslau (heute Wroclaw, Polen), ev., + 30.8.1942 Heidelberg.

 Karl August Martin K. (1842-1912), Jurist, 1892-1912 Oberbürgermeister von Berlin;

M  Margarete, geb. Kalbeck (1853-1923);

G 4: Margarethe (1873-?), verh. Rive; Mathilde (1875-?); Charlotte (1876-?); Johanna (1886-?).

∞ 1916 in Königsberg (evtl. auf Kapps Landgut in Ostpreußen) Eva, geb. Kapp (1889-1977), Tochter des Generallandschaftdirektors Wolfgang Kapp (1858-1922); 3: Gabriele Margarethe (1917-2010); Hartwig (1922-1995), Chirurg, Prof. Dr., u. Margarethe (*1923), verh. Liebrecht.

 

1893-1898                                Besuch des humanistischen Luisengymnasium in Berlin

1899 Ostern                             Abitur ebd., bestanden im zweiten Anlauf

1899-1903                                Studium d. Medizin in Freiburg (SS 1899), Straßburg (WS 1899/1900, SS 1900, WS 1900/01 u. WS 1902/03), Zürich (SS 1901), München (SS 1902)

1901 II, 16                                Physikum in Straßburg mit d. Note "sehr gut"

1901 X ? 1902 III                       Erste Hälfte des Wehrdienstes im Preußischen Artillerieregiment Nr. 52 in Straßburg

1904 VII                                    Ärztliche Approbation in Straßburg mit d. Note "sehr gut."

1904 IX 20                                Promotion zum Dr. med. ebd.; Diss.: "Syringomyelie u. Tabes dorsalis"

1904 X - 1907 XII                      Assistent am Städtischen Krankenhaus Moabit zu Berlin

1904 X - 1905 III                       Zweite Hälfte des Militärdienstes als Arzt beim 1. Bayerischen Feldartillerie-Regiment in München.

1906 II - V                                Ärztlicher Reisebegleiter des Großherzogs von Sachsen-Weimar-Eisenach auf dessen Reise nach Ceylon u. Indien

1908 I - 1910 IX                        Assistent d. Chirurgischen Klinik an d. Univ. Greifswald

1910 X - 1913 IX                       Assistent d. Chirurgischen Klinik an d. Univ. Königsberg

1911 II                                      Habilitation (ohne Habilitationsschrift) über "Freie Sehnen- u. Fascientransplantation"

1912 X - 1913 V                       Chefarzt d. Hilfsexpeditionen des Dt. Roten Kreuzes während des 1. Balkankriegs

1913 X - 1916 IX                      Oberarzt mit dem Titel Professor, ab Oktober 1915 stellvertretender Direktor d. Chirurgischen Universitätsklinik in Königsberg

1914 VIII - 1915 IX                    Stabsarzt, zuletzt beratender Chirurg an d. Westfront beim 3. Bayerischen Armeekorps

1916 IX - 1927 VIII                    o. Professor u. Direktor d. Chirurgischen Universitätsklinik in Königsberg

1927 X - 1934 III                       o. Professor d. Chirurgie u. Direktor d. Chirurgischen Klinik an d. Univ. Tübingen. Antrittsrede am 28.06.1928 über "Die operative Behandlung d. Lungenembolie"

1931/1932                                Rektor ebd.

1933 IV - 1934 IV                      Vorsitzender d. Deutschen Gesellschaft für Chirurgie u. Präsident beim deren 58. Jahreskongress           

1934 IV -1942 VIII                      o. Professor d. Chirurgie u. Direktor d. Chirurgischen Klinik an d. Univ. Heidelberg

 

K. wurde als einziger Sohn des Breslauer Rechtsanwalts Martin K. geboren. 1893 übersiedelte die Familie nach Berlin, wo K. das humanistische Luisengymnasium besuchte. Die "oft ungerechte Strenge" des Unterrichts, so er selbst, wie sein Sohn mitteilte (H. Kirschner, 1986, 2) war ihm wohl zuwider, umso mehr, als er eher technisch und naturwissenschaftlich interessiert war. K. bestand sein Abitur 1899 erst im zweiten Ablauf, wobei er in allen Fächern "genügend" erhielt; die Ausnahme machte Singen mit der Note "sehr gut": durchs ganze Leben blieb K. sehr musikalisch.

Dass K. das Abitur 1898 nicht geschafft hatte, empfand er als die Katastrophe; sie prägte einen Minderwertigkeitskomplex für mehr als zwei Jahrzehnte.

Für sein Studium wählte K. die Medizin; alle seine Vorfahren väterlicherseits waren seit dem 18. Jahrhundert Wundärzte und Chirurgen gewesen - außer seinem Vater. K. studierte in Freiburg, Zürich, München, hauptsächlich aber in Straßburg, wo er auch promovierte.

Nach der Promotion hatte K. Glück, eine Assistentenstelle zu erhalten, und zwar an der inneren Abteilung des Städtischen Krankenhauses Moabit in Berlin bei Chefarzt Geheimer Medizinalrat Prof. Rudolf v. Renvers (1854-1909).  Tatsächlich begann K. seine berufliche Laufbahn mit der Ableistung seiner Militärpflicht - als Arzt beim 1. Bayerischen Feldartillerie-Regiment in München. Da er anschließend zusätzliche militärische Übungen absolvierte, wurde er im Februar 1906 königlicher Bayerischer Assistentenarzt der Reserve - alles dies während seines Dienstes bei v. Renvers. (Nach einer weiteren Übung wurde K. im März 1909 zum Oberarzt der Reserve befördert). Offensichtlich war v. Renvers mit den Leistungen, Fleiß und Einsatzfreudigkeit seines Assistenten so zufrieden. dass l er K. als Arzt dem Großherzog von Sachsen für eine ausgedehnte Indienreise empfahl. Für seine Dienste auf dieser Reise wurde K. ein Orden verliehen. Im Familienbesitz wird das inhaltsreiche Tagebuch K.s über diese Reise aufbewahrt; in Auszügen wurde es veröffentlicht (Hörrmann, 2000, 237-249).  Es ist zu vermuten, dass K.s Interesse für die Chirurgie eben durch seine Erlebnisse in Indien geweckt wurde.

Auf v. Renvers Rat ging K. als Volontärassistent der Chirurgischen Universitätsklinik in Greifswald unter Chefarzt Erwin Payr (1871-1946): Dieser bevorzugte Assistenten mit einer allgemein klinischen Ausbildung, zu Chirurgen erzog er sie selbst. So kam K. nach Greifswald versehen mit einem soliden internistischen Wissen, aber als Anfänger auf seinem neuen Gebiet. Wie er später zugab: "wer... als Neuling der Chirurgie in diesen unter Hochdruck stehenden Chirurgenkessel geriet, der hatte einen schweren Stand" (K., 1941, 100). K. arbeitete aber hart und konnte bereits im August 1908 seinen ersten Artikel publizieren, nämlich zur Kasuistik von Schädelverletzungen. Die Schule Payrs prägte K. das streng anatomische Vorgehen beim Operieren ein, die saubere Operationstechnik und die Exaktheit und Sorgfältigkeit auch im kleinsten Detail. Die eigentliche Kunst des Operierens brachte ihm der bedeutende Chirurg Ernst Heller (1877-1964), Payrs Oberarzt, bei.

Im Laufe seiner chirurgischen Ausbildung begann K. auch seine eigenen - grundlegenden - Versuche über die freie Sehnen- und Fascientransplantation. Im Frühjahr 1909 durfte er seine ersten Ergebnisse vor dem 38. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie darstellen; die weiteren Resultate wurden dem nächsten Kongress am 30. März 1910 präsentiert. Nach  einem weiteren Jahr habilitierte sich K. mit diesen Arbeiten.

Das geschah aber nicht mehr in Greifswald, sondern in Königsberg: Zum Oktober 1910 wurde Payr an die Universität Königsberg berufen, und er nahm einige seiner Mitarbeiter mit, u.a. auch K. In Königsberg blieb Payr aber nicht lange: Im Herbst 1911 wechselte er nach Leipzig, und K.s neuer Chef wurde Paul Friedrich (1864-1916).

Während des 1. Balkankriegs war K. mit der Leitung von Hilfsexpeditionen des Deutschen Roten Kreuzes als Chefarzt betraut. Die ersten fünf Monate verbrachte er in Sofia: Er leitete das 1. Etappenlazarett und beteiligte sich entscheidend an Organisation und Ausbau des bulgarischen Sanitätswesens. Anschließend erhielt K. den Auftrag, die Leitung einer weiteren Hilfsexpedition zu übernehmen, diesmal in der Festung Adrianopol. Seine Aufgabe dort war die ärztliche Versorgung türkischer Kranker und Verwundeter in bulgarischer Gefangenschaft. Durch sein energisches Eintreten für gerechte Behandlung der Gefangenen geling es ihm, die größten Missstände  zu beseitigen. Für seine Verdienste wurden K. - ein einmaliger Fall! - Orden von bulgarischen wie auch von türkischen Seite verliehen. Hier sammelte K. seine ersten Erfahrungen in der Kriegschirurgie - das Gebiet, auf dem er immer wieder arbeiten sollte.

Im Herbst 1913 wurde K. zum Oberarzt mit dem Titel Professor befördert.

Mit Kriegsausbruch wurde K. als Oberarzt der Reserve sofort ins Feld einberufen. Bis zum Herbst 1915 wirkte er als Stabsarzt, zuletzt als beratender Chirurg an der Westfront. Zum Oktober 1915 versetzte man ihn zurück nach Königsberg, um den schwer erkrankten Friedrich zu vertreten. Letzterer verstarb im Januar 1916, und K. wurde Direktor der Chirurgischen Klinik und Lehrstuhlinhaber - zunächst kommissarisch. Angesichts der Kriegsumstände sah sich die Fakultät gezwungen, gegen der Tradition den eigenen Oberarzt, K., als Nachfolger des Ordinarius zu wählen, was an den deutschen Universitäten ganz ungewöhnlich war. Obwohl die Berufung K.s dank seiner ausgezeichneten Arbeiten voll berechtigt war, machte man K. "den törichten Vorwurf" (Nissen, 1969, 81), er habe aus den Kriegsumständen seinen Vorteil gezogen. Bei seiner überempfindlichen Natur hinterließ dies tiefe Narben und war wahrscheinlich eine Ursache seiner schwierigen Beziehungen zu manchen Kollegen. Glücklicherweise konnte K. ab 1916 einen Ausgleich dank seiner treuen Frau finden. "Aus diesem gesicherten Familienhort hat mein Vater zweifellos viele Kräfte für seine Arbeit gezogen" (H. Kirschner, 1986, 7).

In Königsberg erarbeitete K. für sich ein System der effektivsten Zeiteinteilung, das seine enorme Leistungsfähigkeit unterstützte. Von seinen  Arbeiten der Nachkriegszeit in Königsberg sind besonders bedeutend ein neues Verfahren der Oesophagoplastik (Operation der Speiseröhre) und die erste erfolgreiche Embolektomie (Entfernung des Tromben) aus der Lungenarterie. Diese letzte Operation machte K. international bekannt. Darüber hinaus führte K. einen gründlichen Umbau und die Erweiterung der Chirurgischen Klinik durch - eine Erfahrung, die ihm sehr wertvoll werden sollte. Schließlich begann K. ein großes literarisches Unternehmen,  nämlich, die Herausgabe eines fundamentalen Werks: "Die Chirurgie". Bemerkenswert ist auch K.s Artikel "Mehr Kritik!" (1926), in dem er gegen den "Hexentanz" eines "sinnlosen therapeutischen Optimismus" Stellung bezog, nämlich gegen einen "aus Ehrgeiz, Gewinnsucht und Massensuggestion gespeisten allgemeinen Begeisterungstaumel über die neuesten therapeutischen Schlager": Die Folgen dieser Unvernunft seien oft fatal für die Kranken.

 

1927 nahm K. den Ruf nach Tübingen an, wo ihm der Neubau für eine Chirurgische Klinik zugesagt wurde. Hier setzte er seine literarische, chirurgische und forschende Arbeit fort mit Schwerpunkt Anästhesie. Diesem Thema widmete K. auch seine Rektoratsrede. (Die Anästhesiologie spaltete sich von der Chirurgie erst nach dem II. Weltkrieg ab).

K.s Tätigkeit in Tübingen ist durch zwei großen Leistungen gekennzeichnet. Erstens war es die Gründung einer neuen Zeitschrift, nämlich "Der Chirurg". Das erste Heft erschien im November 1928. Die Herausgeber, K., Otto Kleinschmidt (1880-1948) und Otto Nordmann (1878-1946), plädierten in ihrer einleitenden Erklärung dafür, dass sie eine gähnende Lücke in der Fachperiodik zu erfüllen strebten, indem sie sich die Aufgabe stellten, "dem Praktiker gebrauchsfertige Neuerungen zu vermitteln". "Der Hauptwert wird auf diepraktische Chirurgie im weitesten Sinne des Wortes gelegt". Weitere Publikationen K.s erschienen fast ausschließlich eben im "Chirurg".

Gleichzeitig entwickelte K. das Muster eines Neubaus auf dem Gebiet des deutschen Krankenhausbauens. Er wusste, welche Art von Klinik er bauen wollte. Ihre Gestaltung musste den folgenden allgemeinen Forderungen entsprechen: Ruhe für die Patienten und für die Arbeit des Personals, gute Belichtung und Belüftung der Räume, möglichst leichter und zuverlässiger Verkehr innerhalb der Klinik. Seine Überlegungen hat K. bereits während der Planungsphase 1929/1930 in seiner Zeitschrift "Der Chirurg" veröffentlicht. In der Person Hans Daiber (1880-1969) aus Stuttgart fand K. den kongenialen Architekten, der seine Vorstellungen verstehen und umsetzen konnte. Ihr Werk - der erste Hochbau eines Krankenhauses in Deutschland - galt bei seiner Indienststellung (Oktober 1935) als die modernste Chirurgische Klinik Europas.

 

Mit der Emeritierung Enderlens  wurde der Heidelberger Lehrstuhl für Chirurgie vakant. K. erhielt den Ruf dorthin zweimal. 1932 hatte er den Ruf abgelehnt, da er keine Zusage zu einem sofortigen Neubau der Chirurgischen Klinik bekam. Zum zweiten Mal musste das Ministerium solche Zusage geben, und K. nahm den Ruf an.

In seiner lesenswerten Antrittsvorlesung - ihr Text ist jetzt zugänglich (Hörmann, 2000, 251-259) - betonte K. die höchsten Anforderungen, die der Beruf an den Chirurgen stellt, und erörterte weiter insbesondere die  zwei bedeutendsten Fortschritte der Chirurgie in den letzten Jahrzehnten: die Einführung der Asepsis und die Entwicklung der Anästhesie - die Gebiete, in denen er selbst sehr erfolgreich war.

Wie auch in Tübingen war K. durch den Neubau sehr beansprucht. Der Platz im Neuenheimer Feld war bereits bestimmt, und sogar der erste Spatenstich erfolgte noch vor der Ankunft K.s. Dennoch konnte er sein Konzept durchsetzen, getrennte Funktionsbauten mit einem Verbindungsbau zu verknüpfen. Die Gestaltung der Außenfassade wurde aber nicht nach seiner Vorstellung, sondern nach dem Stilgeschmack des Dritten Reiches vorgenommen. Die Einweihung der neuen Klinik fand  am 3. Juli 1939 statt.

Obwohl K. immer sehr national deutsch gesinnt war, muss seine Einstellung gegenüber Nationalsozialismus als eher ablehnend, jedenfalls sehr zurückhaltend charakterisiert werden. Parteimitglied war er nie geworden. Trotzdem ließ K. es zu, im "Deutschen Führerlexikon" (wie auch früher im "Reichshandbuch d. deutschen Gesellschaft") biographiert zu werden: Die öffentliche Anerkennung war ihm nicht gleichgültig. Andererseits machte er dem Regime äußerst widerwillig Konzessionen.  Z. B. kam K., um den Hitler-Gruß zu vermeiden, mit irgendeinem Präparat in der Hand in den Hörsaal: "Hier sehen Sie, meine Herren..." und mit diesen Worten wies das Präparat vor.

K. begriff früh die Entwicklungstendenz des Dritten Reichs. Ab SS 1936 bezeichnete er seine Hauptvorlesung, die früher einfach "Chirurgische Klinik" hieß, als "Chirurgische Klinik mit Berücksichtigung der Unfall- und Kriegschirurgie". Im selben Jahr 1936 publizierte K. einen Artikel über "Die Schmerzbekämpfung im Felde" und sofort nach Kriegsausbruch den programmatischen Artikel über die Aufgaben des Chirurgen im Krieg.

Man hat K. als beratenden Chirurgen im Range eines Oberfeldarztes mehrmals zu Inspektionen, u.a. in Frankreich und Belgien herangezogen wobei er mit vollem Einsatz arbeitete.

Anfang 1942 sah sich K. jedoch gezwungen, seinen Schüler und Oberarzt Rudolf Zenker (1903-1984) um eine diagnostische Bauchoperation bei sich zu bitten. Dieser fand inoperablen Krebs mit Lebermetastasen, verschwieg aber die Diagnose und konnte meisterhaft, indem er K. histologische Befunde eines anderen Patienten vorlegte, bei K. bis zum Tod den Glauben an Genesung aufrecht halten, so dass K. fast bis zum Ende literarisch arbeitete. Laut seinem Wunsch fanden Ansprachen und Kranzniederlegungen bei der Beerdigung nicht statt.

 

Kirschner gehört zu den letzten Großen der Chirurgie, die trotz enormer Erweiterung des Wissensbereichs und wachsender Spezialisation das ganze Gebiet noch beherrschten. Dies wird insbesondere in der Herausgabe von zwei monumentalen Werken widergespiegelt, nämlich des sechsbändigen Werks "Die Chirurgie: Eine zusammenfassende Darstellung der allgemeinen und speziellen Chirurgie" (1926-1930, gemeinsam mit Otto Nordmann) und  die mehrbändige "Allgemeine und Spezielle Chirurgische Operationslehre", die erst 1972 von Kirschners Schülern beendet wurde. Diese beiden Werke fanden bleibenden Platz in der Geschichte der Chirurgie.

Aus K.s Feder stammen auch mehr als 250 Artikel, die das weite Spektrum seiner Interessen zeigen. Es ist zu betonen, dass K.s Artikel, besonders aus der zweiten Hälfte seines Berufslebens, äußerst klar dargestellte, inhaltsreiche und auch stilistisch  ausgezeichnete, musterhaft auch für heutige medizinische Autoren bleiben.

Vieles in K.s Texten spiegelt seine echte Sorge um die Leiden der Patienten und sein tiefes Verständnis für deren psychologische Befindlichkeiten wider. Von da kam auch z.B. sein Vorschlag, Musik "zur Stütze der Psyche" bei Operationen heranzuziehen (K., 1936, Musik u. Operation), wie auch folgender Satz zum Schluss eines Artikels: "Ich kenne in der gesamten Heilkunde kein eindrucksvolleres und kaum beglückenderes Erlebnis, als die Umwandlung eines durch viele Jahre schmerzzerquälten Trigeminuskranken innerhalb von wenigen Minuten in einen arbeitsfreudigen, lebens- und genußfrohen Gesunden" (K., 1942, Behandlung d. Trigeminusneuralgie).

Die Leistungen  K.s sind ausführlich in der Fachliteratur beschrieben. Als besonders bedeutend wird herausgestellt: Die Erfindung des rotierenden Bohrdrahtes (Kirschner-Draht) zur Extension und zur Osteosynthese im Rahmen der Frakturbehandlung (1909-1927)ein neues Verfahren zur Eröffnung des Kniegelenks (1910); eine neue Methode zur Bildung einer künstlichen Speiseröhre (1920); die schon erwähnte erste erfolgreiche Operation der Lungenembolie (1924); K. bereicherte auch die Anästhesie, für die er die Hochdruck-Lokalanästhesie, die segmentäre Spinalanästhesie und die intravenöse Narkose entwickelte. Seine 1938 vorgetragene Forderung nach notärztlicher Therapie am Notfallort, im Zweiten Weltkrieg erprobt und ausgebaut, revolutionierte das Rettungswesen und gilt bis heute unverändert fort.

Eine charakteristische Besonderheit von K.s Wirkung war durch seine technische Begabung bestimmt: Er ersann zahlreiche Instrumente und Verfahren, die seinen Namen trugen. Zwei meisterhaft gebaute Chirurgische Kliniken in Tübingen und Heidelberg - sie gehören zum Erbe K.s als bedeutender Teil - sind gleichzeitig Zeugnisse eben dieser technischen Einstellung K.s.

Zusammenfassend kann folgende Charakteristik bleiben: "Als Chirurg war K. einer der ideenreichsten Köpfe seiner Zeit, ein Genius in der Lösung mechanisch-chirurgischer Probleme, ein glänzender Organisator und ein Baumeister von überdurchschnittlicher Begabung" (Nissen, 1969, 81)

 

Q  UA Greifswald: K 379, K 407 (Sachakten des Kuratorbestandes) u. Auskunft vom 11.1.2011; UA Tübingen:  126/326b (Stammliste K.), 119/109 (Besetzung des chirurgischen Lehrstuhl); UA Heidelberg: PA 1011, PA 4501, PA 4502 (Personalakten K.), Rep. 27, Nr. 502 (Akademische Quästur K.),  H-III-556/1 (Med. Fakultät: Die ordentliche Professur für Chirurgie); Auskünfte des Geh. StaatsA Preußischer Kulturbesitz, Berlin, vom 13.1.2011, des StadtA Heidelberg vom 8.02.2011, des Bürgeramts Heidelberg Mitte vom 18.02.2011.

 

W  Über Nagelextension, in: Beiträge zur klinischen Chirurgie 64, 1909, 266-279; Die praktischen Ergebnisse d. freien Fascien-Transplantation, in: Archiv für klinische Chirurgie 92, 1910, 888-912; Ein neues Verfahren zur schonenden Eröffnung des Kniegelenkes, in: Beiträge zur klinischen Chirurgie 71, 1910, 703-713; D. gegenwärtige Stand u. die nächsten Aussichten d. autoplastischen, freien Fascien-Übertragung, in: ebd. 86, 1913, 5-149; Paul Friedrich +, in: Deutsche med. Wochenschrift 42, 1916, 230f.; Die Wundinfektionskrankheiten, in:  A. Borchard, V. Schmieden (Hg.), Lehrbuch d. Kriegs-Chirurgie, 1917, 155-216, 31937, 102-173; Ein neues Verfahren d. Oesophagoplastik, in: Archiv für klinische Chirurgie 114, 1920, 606-663; Die operative Behandlung d. Kontrakturen u. Ankylosen, in: O. v. Schjerning (Hg.) Handbuch d. Ärztlichen Erfahrungen im Weltkriege 1914/1918, Bd. II, 2. Teil, 1922, 805-856; Ein durch die Trendelenburgsche Operation geheilter Fall von Embolie d. Art. pulmonalis, in: Archiv für klinische Chirurgie 133, 1924, 312-359; Die Behandlung d. eitrigen freien Bauchfellentzündung, In: ebd., 142, 1926, 66-69, 253-311; Mehr Kritik!, in: Ostdeutsche Ärztliche Grenzwarte 7, 1926, Nr. 6, 37f.;  Verbesserung d. Drahtextension, in: Archiv für klinische Chirurgie 148, 1927, 651-658; (mit A. Schubert) Allgemeine u. spezielle chirurgische Operationslehre, B. I: Allgemeiner Teil, 1927; Wesentliche Probleme d. Chirurgie, in: Deutsche med. Wochenschrift 54, 1928, 1541-1544; Zum Neubau d. Chirurgischen Universitätsklinik Tübingen, in: D. Chirurg 1, 1929, 1185-1194, 2, 1930, 54-61, 103-112, 202-215, 369-378; Wandlungen in d. Asepsis des Operationsapparates, in: ebd. 2, 1930, 337-341; D. Schmerz u. seine Bekämpfung in d. Chirurgie, in: Univ. Tübingen: Reden bei d. Einweihung des Universitätsgebäudes u. d. Rektoratsübergabe am 28. April 1931; Das synchrone kombinierte Verfahren bei d. Radikalbehandlung des Mastdarmkrebses, In: Archiv für klinische Chirurgie 180, 1934, 296-308; Schmerzbekämpfung im Felde, in: D. Chirurg 8, 1936, 269-276; Musik u. Operation, in: ebd., 429-431; D. Kollaps in d. Chirurgie, in: ebd., 10, 1938, 248-256, 314-322; Die fahrbare chirurgische Klinik, in: ebd., 713-717; D. Betriebsunfall. Gedanken zur Sozialversicherung, in: ebd., 11, 1939, 262-270; Die wichtigsten Aufgaben des Frontchirurgen nach den Erfahrungen d. letzten Kriege, in: ebd., 769-783; Eugen Enderlen +, in: ebd., 12, 1940, 404; Die Steckschußverletzung, in: ebd., 565-580, 597-611; Erwin Payr zum 17. Februar 1941, in: ebd., 13, 1941, 99-101; Die einzelnen Behandlungsperioden d. Schußfrakturen, in: ebd., 14, 1942, 415-422; Einige Neuerungen d. Drahtextensionsbehandlung d. Knochenbrüche, in: ebd., 673-677; Die Behandlung d. Trigeminusneuralgie (Nach Erfahrungen an 1113 Kranken), in: Deutsche med. Wochenschrift 89, 1942, 235-239, 263-269; Randbemerkungen zur Kriegschirurgie in den Heimatlazaretten, 1942; Die Hochdrucklokalanästhesie, 1944.

 

L  M. Michler, Markwart, K. in: NDB 11 (1977), 675 f.; K., M., in: Reichshandbuch d. deutschen Gesellschaft, Bd. 1, 1930, 929 (B); I. Fischer, Biographisches Lexikon d. hervorragenden Ärzte d. letzten fünfzig Jahre, Bd. I, 1932, 763; K., M., Das Deutsche Führerlexikon, 1934/1935, 1935, S. 230 (B); H. Steigmann, Zum Tode von M. K., in: Die medizinische Welt 16, 1942, 1062 (B); A. Hübner, M. K. zum Gedächtnis, in: Klinische Wochenschrift  21, 1942, 916; W. H. Müller, Prof. M. K. +, in: Schweizerische med. Wochenschrift 72, 1942, 1359; J. St[einer], Zur Erinnerung an M. K., in: Wiener med. Wochenschrift 92, 1942, 824; [Ludwig] Zuckschwerdt, M. K.+, in: Medizinische Klinik 38, 1942, 1103f. (B); O. Kleinschmidt, M. K. Zum Gedächtnis, in: D. Chirurg 14, 1942, 577-582; R. Zenker, M. K.+, in: Münchener med. Wochenschrift 89, 1942, 876f.; O. Nordmann, M. K.+, in: Archiv für klinische Chirurgie 204, H. 1, 1942, 1-3 (B); E. v. Redwitz, M. K+, in: Mitteilungen aus den Grenzgebieten d. Medizin u. Chirurgie 46, 1942/43, I-V (B) K. H. Bauer, M. K.. Gedächtnisrede, in: D. Chirurg 15, 1943, 129-133; E. Payr, M. K. zum Gedenken, in: Ergebnisse d. Chirurgie u. Orthopädie 43, 1943, 1f.;

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B Ölportrait von P. J. Schober (1932) in der Graphischen Sammlung des Kunsthistorischen Instituts der Universität Tübingen (Inventar 97/134); D. Chirurg 14, 1942, Titelbild; Vgl. L, insbesondere zahlreiche Bilder bei: D. Kramer, 1970; H. Kirschner, 1986; F. W. Hörmann, 2000.