Hatry, Julius (Uss) Karl Theodor Hermann, Flugzeugingenieur, Raketenpionier, Filmemacher und Schriftsteller

*30.12.1906, Mannheim, ev.? ‚ + 7.11.2000, Mannheim

V Julius H. (1879-1950), Handelsmann

M Katharina (Käthe) Christina, geb. Habermann (1879-1969)

G 3: Grete Anna Käthe (1900-1919); Else Wilma Luise, verh. Daimler, verh. Baumgartner (1902-1995), Skilehrerin; Ruth Tilde Paula Sofie (1919-1972)

∞ 1935, Berlin, Annemarie Schradiek (1907-1993), Schauspielerin.

K 3: Michael H. (*1940) Theaterwissenschaftler u. Publizist,, Dr. Phil;

       Jochen H. (*1943), Dr. d. Wirtschafts- u. Sozialwissenschaften;

       Jörg H. (1945-1968)

              1912-1919                              Schulbildung in Mannheim; 1.03.1927 Extern-Abitur am Tulla-Gymnasium, Mannheim

1924 IX                                   Eintritt in Mannheimer Fliegerclub

1927 XI – 1930 VII                 Maschinenbaustudium an d. TH München

                 1929                                       Bau des ersten Raketenflugzeug RAK-1 in Gersfeld (Rhön), der erste Flug am 17. September und erster öffentlicher Flug durch Fritz von Opel am 30. September am Flughafen Frankfurt/M

                1935                                       Ausschluss aus den Forschungen als „Mischling 2. Grades“; Umschaltung zu Filmarbeiten u. anschließend Umsiedlung nach Hamburg

               1940  I – 1942 IV                     Mitarbeiter d. Junkers Flugzeug- und Motorenwerke AG, Dessau

                1942 IV – 1943 II                    Regieassistent u. Mitregisseur bei Tobis Filmkunst GmbH, Berlin

                1943 III -1945 V                      Mitarbeiter der Mars-Film GmbH, Berlin

               1945 VI-1952                          Regisseur, Schriftsteller und Filmemacher in Hamburg

               1953 -1991                             Inhaber u. Leiter d. Immobilienfirma „Julius Hatry“, Mannheim

1                  1982                                       Rückkehr zum Luft- und Raumfahrtwesen in Zusammenarbeit mit d. Dt. Ges. für Luft- u. Raumfahrt (DGLR)

Ehrungen: Silberne Stadtmedaille Mannheims (1987); Korrespondierendes Mitglied d Dt. Ges. für Luft u. Raumfahrt (1992); Ehrenmitglied des Baden-Württembergischen Luftfahrtverband (1999); Julius Hatry-Straße in Mannheim (2007); Ehrenstatus für H.s Grabstätte auf dem Hauptfriedhof Mannheim (2016).

Ungewöhnliche Kinder- und Schuljahre

H. erblickte das Licht der Welt am Sonntag, 30. Dezember 1906 und später bezeichnete er manche Ereignisse seines langen und nicht leichten Lebens als Sonntagkinderglück.

H. wurde als einziger Sohn des Mannheimer Handelsmanns Julius H. geboren. Sein Vater gründete 1902 eine Immobilienfirma, die in den damaligen Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs unter seiner Leitung florierte und sich in ein bedeutendes Immobiliengeschäft der Region entwickelte.

Die Eltern kümmerten sich sehr um eine harmonische Entwicklung ihrer Kinder. „Im Sommer wanderte man fast jeden Sonntag im Oden- oder Pfälzer-Wald. Vater gab seine reichen Kenntnisse von Tier und Pflanzen an uns weiter“ (Marchivum, NL Hatry, Nr. 28). Jeden Winter fuhr die Familie in den Schwarzwald, wo H. im „Feldberger Hof“, südlich von Freiburg, damals noch eher ein Berggasthof, schon ab drei Jahre Skisport erlernen sollte. (Seine ältere Schwester Else wurde 1932 die erste Skilehrerin in Deutschland; bisher war dieser Beruf nur Männern vorbehalten). Im Alter vermerkte H., dass Feldberg „bis heute zur zweiten Heimat“ wurde (ebd.). Ebenso früh wie Skilauf erlernte H. das Lesen. Als die Familie 1910 ein größeres Haus bezogen hatte, erhielt der Bub H. einen eigenen Raum im Keller für seine Betätigungen. Später richtete er dort ein Labor ein, wo er u. a. pyrotechnische Raketen herstellte. Der Vater hatte vor, seinen vielseitig begabten Sohn mit besonderer Neigung zu Naturwissenschaften und Technik in eine Private Schulung zu bringen, wurde aber nach Kriegsausbruch eingezogen, und H. besuchte das humanistische Karl-Friedrich-Gymnasium bis 1919, als er wegen längerer Krankheiten seine Schulbildung unterbrechen musste. Hinzu kamen neue Leidenschaften, insbesondere, neben den üblichen Sportaktivitäten, Besuch zahlreicher Flugveranstaltungen. 1922 wurde H. Mitglied des Mannheimer Fliegerclubs und fuhr auf eigene Faust auf die Wasserkuppe zum Rhön-Segelflugwettbewerb. Dort betätigte er sich als Starthelfer und durfte zu Belohnung seine ersten Start mit einem Hängegleiter unternehmen. Im Alter betrachtete er dies als Beginn seiner fliegerischen Laufbahn, obwohl es tatsächlich erst fünf Jahre später dazu kam. Allerdings durfte er mit 18 Jahren, Ende 1924, offiziell Mitglied des Badisch-Pfälzischen Luftfahrtvereins in Mannheim werden (Technoseum JH Nr.16).

Jeder Winter weilte H. in Feldberg. Hier traf er mehrere markante Persönlichkeiten, die Kontakte mit ihnen sollten von großer Bedeutung für sein Leben werden. Dies waren insbesondere August Euler (1868-1957), erster Inhaber eines „Flugzeugführerscheins“ und Flugpionier, der Autounternehmer Wilhelm von Opel (1871-1948) und Jagdpilot-As Ernst Udet (1896-1941).

Als Gründungsmitglied der Skizunft Feldberg meisterte H. alle drei Disziplinen im Skilaufen – Langlauf, Sprunglauf, Hindernislauf – und bestritt viele Rennen. Er war in mehreren nationalen und internationalen Wettbewerben erfolgreich. Der Skisport hatte H. ein neues Gebiet erschlossen: Im Winter 1923/24 beteiligte sich H. als Skiläufer beim Drehen des Films „Eine Fuchsjagt auf Skiern durchs Engadin“ des Bergfilmpioniers Arnold Fanck (1889-1974). Gleichzeitig gelang es ihm, eine Ausbildung als Kameramann zu erhalten, was ihm später sehr zugute kam. Schon im nächsten Winter arbeitete H. bei Fanck in den Alpen als Kamera- und Regieassistent bei der Produktion des Films „Der heilige Berg“, wo die zukünftigen Berühmtheiten Luis Trenker (1892-1990) und Leni Riefenstahl (1902-2003) ihre ersten Rollen spielten. Seitdem blieb Trenker H. „über alle Zeitläufe hinweg ein treuer Freund“ (Nachlass H., Nr. 28). Damals dachte H. sogar an eine Filmemacher-Laufbahn, sein Vater aber bestand darauf, dass er zunächst sein Abitur machen sollte und schickte ihn für Vorbereitung ins Ausland. Mitte 1925 verbrachte H. je drei Monate in London und Paris, um seine Sprachkenntnisse zu vervollkommnen. In Paris wurde ihm erlaubt, nach einer Antrittsprüfung bei Marie Curie (1867-1934), an ihren Vorlesungen als Gasthörer teilzunehmen.

Anfänge in Luftfahrt und Flugzeugkonstruktion

Im Frühjahr 1927 bestand H. das Extern-Abitur an der Tulla-Oberrealschule in Mannheim. Sofort danach ließ er sich durch den Badisch-Pfälzischen Luftfahrtverein in Mannheim für eine Ausbildung im Segelflug bewerben. Als Begründung schrieb er insbesondere: „Da ich mich im Flugzeugbau zu spezialisieren gedenke, so wünsche ich vor Beginn meiner wissenschaftlichen Arbeiten praktische Kenntnisse auf meinem zukünftigen Fachgebiet zu erwerben“ (Technoseum, JH Nr. 16). H. war in die engere Wahl gekommen und dann sollte das Los unter zehn Kandidaten bestimmen. „Wie grausam, durch nichts die Entscheidung beeinflussen zu können“, gab er in einem Interview zu (1929, Pioniere…, 4). H. hatte das Glück eines Sonntagskindes: Er zog Nummer Eins. In der Segelflugschule Rossitten, (Ostpreußen, auf der Kurischen Nehrung) gelang es H. binnen fünf Wochen harter Arbeit nacheinander alle drei Stufen, A-, B- und C-Prüfung zu bestehen. Damit wurde er der erste badische Segelflieger mit einem C-Schein. Die „Mitteilungsblätter“ seines Vereins kommentierten: „Wir sehen hierin einen Beweis dafür, dass ein allseitig durchtrainierter Sportsmann immer gute Leistungen erzielt“ (Technoseum, JH Nr. 157). Noch mehr: Diese ungewöhnlich guten Leistungen veranlassten die Schulleitung in Rossitten, H. als Gruppenleiter und Hilfsfluglehrer zu verwenden, was er mit großem Erfolg ausführte. Außerdem betätigte sich H. im technischen Betrieb der Schule und führte selbständig Entwurf und Bau von großen Flugzeug-Versuchsmodellen durch. Das Zeugnis der Flugschule vom 30. Oktober 1927 bewahrt ein ausdruckvolles Porträt des 20jährigen H. : „Er ist von großer Gestalt, eine gute und wohlansprechende Erscheinung. Seine Umgangsformen sind für seine Jugend sehr selbstsicher. Sein Auftreten zeugt von starkem, ausgeprägtem Selbstbewusstsein. Sein Charakter ist lauter. Sein Wissen ist gut, seine Auffassungsgabe scharf. Er ist körperlich gewandt und drahtig, geistig wach und zielbewusst vorwärtsstrebend. Er bewährte sich gleichermaßen im Flugdienst, wie in der Werkstatt und im Konstruktionsbüro“ (Tecnoseum, JH Nr. 41). Das Zeugnis endet mit den Worten: J. H. ist „ein junger Mann, der an jeder Stelle der deutschen Luftfahrt mit Nutzen eingesetzt werden kann“ (ebd.).

Nun begann H. sein Maschinenbaustudium an der TH München. Er studierte allgemeine Disziplinen, wie Mathematik, Physik, Mechanik, Mechanische Technologie. Besonders viele Stunden widmete er der Höheren Mathematik, Mechanik und „Entwerfen der Maschinenteile“ (Abgangszeugnis, Technoseum, JH Nr. 50). Vorgreifend: Im Herbst 1930 brach H. sein Studium „angesichts der schlechten wirtschaftlichen Verhältnisse“ (A TU München, PA. Stud. Hatry Julius) offiziell ab. Dahinter stand bestimmt auch, dass damals an der TH weder Flugzeugbau, noch Aerodynamik gelehrt wurde, und für den geborenen Autodidakten H. war diese Entscheidung nahe liegend.

Kaum in München gekommen, wurde H. Mitglied der AKAFLIEG (=Akademische Fliegergruppe), die hier 1924 gegründet worden war. Er sich beteiligte maßgebend an Konstruktion eines großen Segelflugzeugs. In den Semesterferien 1928 ging die AKAFLIEG geschlossen in die Flugschule Rhön (Wasserkuppe) zum Training. Hier konnte H. auf Anhieb, unter ganz anderen Voraussetzungen, als auf der Kurischen Nehrung, z. B. topographischen und meteorologischen Umständen, die C-Prüfung machen. „Das war an dieser Stelle noch niemals jemand gelungen!“, so H. in einer Erinnerung (Technoseum, JH Nr.69). Diese Leistung schaffte gute Kontakte mit dem Schulleiter Fritz Stamer (1897-1969) und besonders mit dem Leiter des Konstruktionsbüros Alexander Lippisch (1894-1976), mit dem H. sehr lehrreiche Besprechungen hatte. Später betonte H., dass er „Lippisch als meinem Lehrer und Mentor in vielen Fragen der Flugtechnik und Aerodynamik verpflichtet war und bin“ (1983, 128-6). Im Sommer 1928 wirkte H. als Versuchspilot insbesondere auf Lippischs neuartigen Flugzeugformen, wie „Ente“, mit vorne liegendem Leitwerk, und „Nurflügel“, d. h. „schwanzlose“ Flugzeug.

Im Herbst 1928 erhielt H. eine Einladung, sich am „Preisfliegen Rossitten 1928/29“ zu beteiligen. Er reichte dort drei Arbeiten ein. Eine war das „Nurflügelmodell“ nach Ideen von Lippisch, das jedoch ungenügend erschien. Die zweite Arbeit, die von H. konstruierte und erbaute „Wasserratte“, das erste Segelflugzeug, das auf dem Wasser niedergehen konnte, war dagegen ein voller Erfolg und erhielt einen hohen Preis. (1930 übergab H. seine „Wasserratte“ seinem Mannheimer Verein mit der Gegenleistung der Ausbildung im Motorflug).

Die dritte Arbeit bedeutete den Eintritt H.s in das Gebiet der Raketentechnik.

Raketenpionier – Erfolg und Enttäuschung

Das Interesse an Raketen war charakteristisch für seine Generation. Dem damals 18jährigen H. löste die populär-wissenschaftliche Schrift „Der Vorstoß in den Weltenraum“ des Raketenpioniers Max Valier (1895-1930) „eine Initialzündung aus“ (1983, 128-1).

1928 machten Lippisch und Stamer die ersten Versuchen, raketenbetriebene Flugzeuge zu schaffen. Die ungenügenden Ergebnisse dieser Versuche veranlassten H. das Problem zunächst theoretisch zu analysieren und das Flugverhalten eines Raketenflugzeugs näher zu untersuchen. Während die Raumflugpioniere ihre grundlegenden Berechnungen für Flüge von Raketen außerhalb des Schwerefeldes der Erde erstellten, hat H. die Grundgleichungen von Flugzeugen mit Raketenantrieb innerhalb des Schwerebereiches erstmals aufgestellt. Dies war H.s flugwissenschaftliche Pionierleistung. Seine flugmechanischen Berechnungen lieferten die Voraussetzungen für die Unterlagen zu dem von ihm gebauten Raketenflugzeug-Modell.

Experimente mit diesem Modell bestätigten H.s Berechnungen. Damit wurde die falsche Deduktion von Lippisch über Ursachen des instabilen Flugs in seinen Versuchen mit Stamer widerlegt. Dies war Lippisch so unangenehm, dass er H. bat, seine Berechnungen nicht zu publizieren. Aus Achtung folgte H. der Bitte von Lippisch, so wurde diese grundlegende theoretische Arbeit nicht in einer Fachzeitschrift veröffentlicht. Sie blieb als Text für den Wettbewerb nur einem engen Kreis von Spezialisten bekannt und erst 1983 publizierte H. seine Gleichungen, als sie bereits Gegenstand der Geschichte waren.

Gleichzeitig regte Lippisch H. an, nicht die Raketenmodelle, sondern ein bemanntes Raketenflugzeug zu konstruieren. H. war begeistert. Sofort, im April 1929 mietete er eine Werkstatt in Gersfeld (Rhön) und begann eigenhändig seine Maschine zu konstruieren und zu bauen. Er arbeitete wie besessen – allein gegenüber der Konkurrenz der ganzen Flugzeugindustrie. Dabei handelte es sich nicht um ein umgebautes Segelflugzeug (wie man oft behauptete), sondern um eine Spezialkonstruktion nach den damaligen Bauvorschriften für Motorflugzeuge, die wesentlich strenger als für Segelflugzeuge waren. Das Fluggerät war ausschließlich für Antrieb mittels Feststoffraketen und für Start mittels eines Feststoffraketen-Katapults bestimmt und damit also das erste Raketenflugzeug der Welt.

Zu dieser Zeit erfuhr Fritz von Opel (1899-1971) von H.s Arbeiten. Fritz v. Opel, Sohn von Wilhelm v. Opel, war Mitinhaber der Firma und leitete dort die Reklameabteilung, was seinen Neigungen eines sensationslustigen Mannes entsprach. Hinter sich hatte er bereits die von Max Valier angeregten Versuche, ein Raketenflugzeug bauen zu lassen – daher die erwähnten Experimente von Stamer und Lippisch – aber auch die spektakuläre Fahrt des ersten Raketenautos. Das Auto wurde nach dem Vorschlag und Entwurf Max Valiers in Rüsselsheim gebaut und mit Raketen des Raketenfabrikanten Friedrich Sander (1885-1938) versehen. (Danach hat Valier, wegen eines Betrugs von Seiten v. Opel die weitere Zusammenarbeit abgebrochen und ging nach Berlin).

Durch Vermittlung von Sander und Lippisch konnte Opel Ende Juli durchsetzen, dass H. mit ihm den Vertrag über die Übergabe des damals noch in Bau befindlichen Flugzeugs abschloss. Es wurde vorgesehen, dass Opel mit dem Flugzeug den ersten öffentlichen Flug ausführe, wohingegen er sich verpflichtete, an 42 Plätzen, mit denen er schon entsprechende Verträge abgeschlossen hatte, Raketenflugzeugflüge mit H. als Pilot durchzuführen. Dafür sollte H. mindestens 1000 RM pro Monat und zusätzlich 500 RM für jeden Flug erhalten.

Vertragsgemäß wurde das fertige Flugzeug Anfang September nach Frankfurt abgeliefert. Zur Geheimhaltung wurden die Testversuche mit dem Flugzeug, das mit Sanders Raketen ausgerüstet war, auf einer Wiese beim Jagdgut „Mönchbruch“ begonnen – was durchaus lebensgefährlich war.

Trotzdem gelang H. am 17. September das Große: Die Startraketen zündeten, beschleunigten das Flugzeug auf 90 bis 100 km/h, der Pilot zündete die Flugraketen und legte im freien Flug in etwa zehn Meter Höhe rund 350 Meter zurück. Das war der erste bemannte Start und Flug mit Feststoffraketen in der Welt. Nun konnte von Opel eine öffentliche Vorführung auf dem Frankfurter Flughafen ankündigen.

„Die Zusammenarbeit zwischen von Opel und H. war von Anfang an Zweckbündnis und gewiss keine «Liebesheirat»“ (Filthaus, 1999, 151). Dies ist jedoch zu gelinde gesagt: Denn von Opel spielte kein „fair play“.

Dies zeigte sich bereits, als H. das fertige Flugzeug vertragsgemäß nach Frankfurt transportiert hatte und sah, dass dessen ursprüngliche Bezeichnung „Hatry-RAK I“ nun „OPEL Sander-RAK I“ wurde. Auf seinen Protest hin wurde dann auf beiden Seitensteuerflächen die Beschriftung „Hatry-Flugzeug“ angebracht, die Opel dann direkt vor der öffentlichen Demonstration mit dicken schwarzen Strichen übermalen ließ, um nur seinen eigenen Namen der Öffentlichkeit darzustellen. Zu H.s Glück hatte die „New York Times“ Bilder, die bei geheimen Vorversuchen in der Nähe Frankfurts im Vorhinein aufgenommen worden waren, in ihrem Bericht über die Sensation veröffentlicht. Dies wurde zu einem Beweismittel in späteren Streit zwischen H. und Opel.

Der große öffentliche Schau, der Flug von Opel am 30. September 1929, über den die Presse weltweit berichtete, endete mit ungeschickter Landung, bei der das Flugzeug beschädigt wurde. Vertragswidrig weigerte sich v. Opel es zu reparieren, erklärte es für untauglich und sagte die im Vertrag vereinbarten 42 Schauflüge von H. ab. Danach verschwand von Opel in Amerika.

Nach dem Abbruch der Beziehungen begann H. einen Prozess gegen Fritz von Opel; er verlangte Schadenersatz. Der Prozess schleppte sich durch zwei Instanzen und dauerte nahezu fünf Jahre lang. Letztendlich wurde die Sache für H. entschieden, dem zwei Zahlungen von je 5000 RM zukommen sollten. Dies war jedoch nicht einfach. Eine Episode dazu spiegelt H.s kämpferische Natur wider. Am 25. Juli 1934 in Berlin sah H. Fritz v. Opel im Auto, das sein Fahrrad überholte. H. jagte nach und konnte feststellen, bei welchem Hotel Opel ausstieg. Binnen zwei Tagen erwirkte er beim Amtsgericht, aufgrund bei ihm vorhandener Dokumente, den Arrest-Befehl für Nicht-Zahlung von 5000 RM. Am 28. Juli um 7 Uhr erschienen der Gerichtsvollzieher und H. bei dem noch schlaffenden v. Opel. Nach fast zweistündigem Herumstreiten sah v. Opel sich gezwungen, einen Scheck zu unterschreiben, um öffentliches Skandal wegen des Arrests zu vermeiden. Die weiteren 5000 RM konnte H. erst nach einem Jahr mit Hilfe von Wilhelm von Opel erhalten.

Trotzdem plagten H. lebenslang Traumata wegen Ungerechtigkeit, unerfüllter Hoffnungen und sehr langes Verschweigens seiner tatsächlichen Leistungen zugunsten von Opel. Seinen sachlichen Brief an Opel vom 3.12.1965 bezüglich einer Ausstellung im Deutschen Museum (der Brief in Kopie war für das Museum bestimmt) unterschrieb H. mit den Worten „Sie zutiefst hassender“ (Technoseum JH Nr.12)

Abbruch der Ingenieurtätigkeit

                       Trotz seines Pechs mit v. Opel war H. noch optimistisch eingestellt. Im Herbst 1929 schrieb er:

„Das Problem des Raketenfluges wurde aus dem ersten Versuchsstadium nunmehr in eine ihrer Vollendung entgegengehende Form gebracht. In der Tat stehen wir heute an der ersten Schwelle eines Luftverkehrs, der die praktische Relativierung von Raum und Zeit bedeuten wird“ (1929, Pioniere im Neuland). Nun begab sich H. nach Berlin, um mit Max Valier RAK-II zu erarbeiten, dessen Entwurf er schon vorbereitet hatte. Valier verunglückte aber im Mai 1930.

H. kehrte zurück und widmete sich dann dem Studium der verschiedensten Probleme von Aerodynamik, Gasdynamik, Thermodynamik, Ballistik u. a., die sich beim Konstruieren raketenbetriebener Flugzeuge ergeben.

Seinen Lebensunterhalt verdiente H. ab April 1930 bis Frühjahr 1933 als Bauprüfer II. Klasse des Deutschen Luftfahrt-Verbands: Er führte in dem für ihn zuständigen Bereich Nordbaden/Pfalz die Bauprüfung von Segelflugzeugen durch.

Mit der „Machtübernahme“ 1933 begannen für H. zunehmende Schwierigkeiten, weil er einen jüdischen Großvater hatte: H. musste seine Stelle als Bauprüfer verlassen. Aus dem Badisch-Pfälzischen Luftfahrtverein in Mannheim wurde er, nach seinen Worten „durch den damaligen SS-Fliegersturmführer… herausgeschmissen“ (Technoseum, JH Nr. 158).

So ging H. wieder nach Berlin, wo er auf die Unterstützung von Ernst Udet, jetzt im Luftfahrtministerium, hoffte. Er glaubte noch, dass er als Raketenflugzeugingenieur nützlich sein könne. Dieser Bereich stand aber nicht unter Udet, sondern unter Walter Dornberger (1895-1980) im Heereswaffenamt. Dornberger zeigte viel Interesse und bestellte bei H. eine weitgehende Ausarbeitung über alle denkbaren Anwendungsmöglichkeiten von Raketen, auch als Waffe. Es folgte ein Jahr intensiver Forschungen, die u.a. die Bearbeitung von Experimenten der „AG für Industriegas-Verwertung Heylandt“ mit Flüssigkeitsraketen einschlossen, die ihm dank der Hilfe des Professors Wilhelm Hoff (1883-1945), Leiter der Versuchsanstalt für Luftfahrt, zugänglich waren. So verfasste H. seinen Bericht, der „den Umfang und Inhalt einer Doktorarbeit angenommen hatte“ (1987, Berlin-relevante …,936). Als er sein Werk Dornberger übergab, forderte man von ihm die Personalpapiere. „Vom Heeresamt habe ich nie wieder gehört!“ (ebd.). H. vermutete später, dass diese Arbeit in Peenemünde verwendet wurde. Mit ihr fand seine Ingenieurtätigkeit ein jähes Ende, von den großen Möglichketen der Weiterentwicklung auf seinem Gebiet wurde H. ausgeschlossen.

Darüber schrieb H. im Alter nicht ohne Bitterkeit: „Auf diese Weise wurde mir einerseits vielleicht das typische Forscherschicksal erspart, dass ein zweckfreies Suchen nach Erweiterung menschlicher Erkenntnisse und Möglichkeiten durch Zeitereignisse in eine Zielrichtung gelenkt wird, die den ursprünglichen Absichten niemals innewohnte. Auf der anderen Seite aber hat damit sicherlich eine in jugendlichstem Alter vielversprechend begonnene Arbeit nicht ihren krönenden Abschluss finden können“ (1983, 128-11).

Laufbahn als Filmemacher und Schriftsteller

Ab 1934 wieder in Berlin, befand sich H. in einer nicht leichten Lage. Ernst Udet zog ihn zur Mitarbeit am Drehbuch seines Films „Das Wunder des Fliegens“, um ihn etwas zu unterstützen. Eine große Unterstützung erhielt er von Seiten der Schauspielerin Annemarie Schradiek, die, so H. „den Mut aufbrachte, mit mir – einem jüdischen ‚Mischling‘ – die Ehe einzugehen“ (Marchivum, NL Hatry, Nr. 5, Brief H. an den OB Heimerich vom 29.05.1952). Seine Frau, damals am Nationaltheater in Mannheim, musste deshalb weggehen (ihr Vertrag wurde nicht verlängert), konnte aber ein Engagement am Theater in Hamburg erhalten, dank der Bestätigung ihrer einwandfreien arischen Abstammung, die ihr ein alter Parteimitlied mit goldenem Parteiabzeichnen beschafft hatte.

So gingen die H.s nach Hamburg.

Nach Kriegsausbruch musste H. damit rechnen, dass er eingezogen würde. Im Alter erinnerte sich H.: „Ich hatte keine Lust für ein ‚Vaterland‘ zu sterben, das gar nicht meines sein wollte“ (Technoseum, JH Nr. 69). Wieder hatte ihm Udet geholfen, der damals einen hohen Posten im Luftfahrtministerium bekleidete: Er gab H. Empfehlung für die Firma Junkers, die damals einen Mitarbeiter brauchte, der einerseits Vorgänge an Hand von Filmen analysieren, anderseits mit der Filmkamera Dokumentarfilme herstellen konnte. Udets Empfehlung überwog den fehlenden Nachweis über die rein-arische Abstammung, und H. wurde angestellt.

H. filmte zuerst Brandbeschussversuche auf Benzintanks, in Freie, aber auch im Windkanal, um festzustellen, bei welchen Schubwinkeln und Geschwindigkeiten eine Beschädigung des Leitwerks verhindert werden kann. Für einige Arbeiten mit Unterwasseraufnahmen durfte H. von Leni Riefenstahl eine automatische Kamera mit Unterwassergehäuse ausleihen, die sie zum Olympiafilm 1936 verwendet hatte.

Für Filmaufnahmen im Flug hatte H. sein eigenes Spezialfilmflugzeug; ein Ju 87, in dem der Maschinengewehr-Drehkranz zum Kamerastativ umgebaut wurde. H. hat insbesondere den Film über das „Flugzeugkopplungsverfahren“ hergestellt. Es handelte sich um den Transport eines Jagdflugzeugs durch einen weit fliegenden Bomber bis zur Notwendigkeit des Jagdschutzes wegen feindlicher Angriffe.

Kurz und gut: „Hochbefriedigende Tätigkeit und allseits anerkannt. Aber: Nach Udets Tod fristlose Kündigung zum 31.12.1941“ (ebd., JH Nr. 69). Auf Proteste von Seiten der Spitzen der Firma, in deren Aufträgen H. arbeitete, wurde die Kündigung zwar nicht aufgehoben, aber auf 30.04.1942 verändert (ebd., JH Nr.23).

Zu dieser Frist konnte H. einen Vertrag mit „Tobis Filmkunst GmbH“ abschließen: Er war Regieassistent bei den Filmen „Die große Nummer“, „Die Wirtin zum weißen Rössel“ und Mitregisseur des Films „Die tolle Nacht“.

Als dieser Vertrag im Februar 1943 endete, ging H. zur Mars-Film GmbH, die bis zum Kriegsende Lehr- und Dokumentarfilme für die Wehrmacht produzierte. Um diese Stelle zu erhalten, sollte H. einen Fachschaft-Ausweis einreichen, und hier hatte er Glück im Unglück: Sein Haus wurde ausgebombt, und H. konnte anstelle des fehlenden Ausweises Bescheinigung zeigen, dass seine Dokumente durch einen Luftangriff vernichtet waren. (Man verlangte auch den Fachschaft-Ausweis seiner Frau, aus Hamburg kam Bescheid, dass ihre Abstammung rein arisch ist).

Mit einem dreiköpfigem Team machte er Dreharbeiten an verschiedenen Orten. In Frankreich gerieten sie in Invasion. Im Februar 1945 erlebte H. in Dresden die berühmt-berüchtigt gewordenen Luftangriffe auf die Stadt, was er später ausführlich beschrieb. Trotz aller Gräuel der von ihm dargestellten Ereignisse schloss H. seine Beschreibung mit den Worten: „Allerdings: Vom Zaun gebrochen hat den verbrecherischen Krieg und Terror: HITLER!“ (Marchivum, NL Hatry, Nr. 72).

Nach dem Kriegsende konnte H. nach Hamburg zu seiner Familie zurückkehren, aber erst 1947 gelang es ihm, „durch entsprechende Bestechung“ (JH, Nr.105) seinen gesamten Hausstand, einschließlich Möbel, aus Dessau nach Hamburg zu bringen. Während der ersten harten Nachkriegsjahre bemühte sich H. als Literat, Regisseur und später Filmemacher den Lebensunterhalt der Familie zu sichern.

Als Literat, genauer als Journalist, war H. eigentlich schon ab Ende der 1920er Jahre tätig: Er schrieb damals verschiedene Berichte und Mitteilungen über Sport und später auch Fliegen. (Ab 1933 unterzeichnete er seine Zeitungspublikationen Utz Hartung). Später (1978) behauptete H., dass er „zwar nicht tausende, aber ...zig andere aufzählen [könnte], die nur noch in meinem Wissen existieren, nicht aber als Dokument“ (Marchivum, Nl H. Nr. 23).

In Hamburg begann H. mit Hörspielen für die dortigen Funkanstalten, wobei er Texte vorbereitete und die Regie führte. Dokumentiert sind Hörspiele „Wie Tiere des Waldes“ nach Friedrich Wolf und „Das traute Heim“ nach Georges Courteline, „Das Schweigen des Meeres“ nach Vercors, und auch für Kinderfunk („Däumelinchen“, „Die Bienenkönigin“), alle 1946.

Die Arbeit als Bühnen-Regisseur schloss sich an: Für das Staatstheater in Baden-Baden schuf H. „Das Glass Wasser“ von Eugène Scribe (1946-1947).

Als Schriftsteller machte H. sich einen Namen insbesondere durch die Dramatisierung der Erzählung von Alfred Döblin „Der Oberst und der Dichter“ (1948). Döblin schrieb am 17.Januar 1948 an H. „Mir scheint Ihre Idee… also die Umwandlung der objektiven Person in Traumgestalten und Spiegelung von Familiengehörigen des Oberst, sehr interessant, und das Ganze wäre dann eine dramatische Umdichtung und Verdichtung. Es kann sehr wirksam und psychologisch einleuchtend sein“ (Marchivum, NL Hatry Nr.1).

Zu dieser Zeit kam auch die Filmarbeit, zunächst mit Synchronisierung von französischen Filmen; bei der Hamburger Firma Pontus-Film leitete H. die Synchronisierungsabteilung. Dann begann H. mit eigenen Regiearbeiten, so 1948 für den Dokumentarfilm „Verlorene Jugend“. Einen großen Erfolg hatte sein Film „Reitvorschrift für eine Geliebte“ (1950), der für die Biennale in Venedig ausgewählt wurde. Die Liste der damaligen Filmen H.s in verschiedenen Stadien, von abgeschlossenen bis in der Anfangsphase befindlichen, zählte 31 Titel.

Anfang 1951 plante H. sogar „eine eigene Filmproduktion-Gesellschaft mit Sitz in der Hansestadt Hamburg zu gründen“ (Marchivum, NL Hatry Nr. 21).

Dieses Vorhaben wurde nicht realisiert: Die Familie musste nach Mannheim zurückkehren.

Unternehmer in Mannheim

Nach dem Tod des Vaters (1950) überredete die Mutter H., das väterliche Geschäft zu übernehmen. 1952 verließ H. mit seiner Familie Hamburg endgültig, um die Firma „Julius Hatry“ in Mannheim weiter zu führen und zu erweitern. Auch hier arbeitete H. mit voller Hingabe. Er betätigte sich insbesondere beim Wiederaufbau von Mannheims wichtigster Geschäftsstraße (Planken) und deren Passagen.

Dabei wirkte er nicht nur als Unternehmer, sondern auch als Architekt. Er trug mit seinen Konzeptionen zu mehreren Hausblocks in den Quadraten O7 und P7 bei, vor Allem das Haus P7, 1 für die eigene Firma, sowie zu Viktoriahaus, OVA- und Kurpfalzpassage. Auch als Innenarchitekt war H. tätig, insbesondere für Arzt-Praxen.

Überregional beschaffte H. in ganz Deutschland geeignete Ladenlokalitäten für große Ladenketten wie „Quelle“, „Tengelmann“ u. a..

H. wurde Mitglied des Verbands „Ring Deutscher Makler“ und genoss großes Ansehen unter Fachleuten. Er leitete seine Firma bis 1991; mit seinen 85 Jahren löste er sie aus.

Rückkehr zum Luft- und Raumfahrtwesen: Späte Anerkennung

1982 erfuhr Prof. Dr.-Ing. Werner Schulz (1909-1984), eine der leitenden Persönlichkeiten der DGLR, über H. und lud ihn zu einer Sitzung der Fachgruppe „Geschichte der Luft- und Raumfahrt“ der DGLR in Stuttgart ein. So begann die Zusammenarbeit H.s mit DGLR. Zunächst beteiligte er sich an Vorbereitungen der Reihe „Kurzbiographien von Pionieren“. (In seinem Nachlass befinden sich viele gesammelte Materialien über August Euler und Alexander Lippisch). Nach dem Tod von Schulz übernahm H. das Amt des Koordinators dieser Reihe.

1986 engagierte sich H. bei der Neugründung der Bezirksgruppe der DGLR „Nordbaden-Pfalz“ in Mannheim, die er bis zu seinem Tod leitete und zahlreiche Veranstaltungen organisierte. 1992 ernannte ihn der Vorstandsrat der DGLR zum korrespondierenden Mitglied „in Würdigung seiner richtungsgebenden Konstruktionen und Versuche für einen Raketenantrieb von Flugzeugen und für seine unermüdliche Tätigkeit als DGLR-Bezirksgruppenleiter“ (Technoseum, JH Nr. 1).

Im September 1983, anlässlich der Jahresversammlung der DGLR in München hielt H. seinen wichtigen Vortrag über die frühere Entwicklung der Raketentechnik in Deutschland. Er würdigte insbesondere die unterschätzte Rolle von Max Valier für die Realisierung der Raketen als Antriebsmittel, dann erzählte er über Modell- und Flugversuche auf der Rhön und ausführlicher über die eigenen Arbeiten.

Mehrmals trug H. vor über verschiedene Aspekte dieses Thema, sich konzentrierend auf eine oder andere Seite. Außer Vorträgen in München (1983), Berlin (1987), Mannheim (1987), Hannover (1999) sollten insbesondere seine Auftritte in Russland im September 1998 genannt werden. Zunächst in Moskau gab H. Interviews im Institut für Geschichte der Naturwissenschaften und Technik, dann der Zeitschrift „Erde und Weltall“ und dem Moskauer Fernsehen. Anschließend las er sein Vortrag „Mein Beitrag zur Geschichte des bemannten Raketenfluges“ mit der Demonstration eines dokumentarischen Videofilms dazu vor der Wissenschaftlichen Konferenz der Akademie der Wissenschaften. Danach beteiligte sich H. an den 33. Ziolkowsky-Lesungen in Kaluga und hielt seinen Vortrag „Erinnerungen über die ersten Flüge der Flugzeuge mit Pulver-Raketen-Antrieb“.

Eine besondere Seite von H.s Aktivitäten war die Rekonstruktion alter Flugzeuge. Für die „August Euler-Flugtage 1987“ in Feldberg konnte H. einen Nachbau des Euler-Flugzeugs „Gelber Hund“, des ersten deutschen Postflugzeugs, im Maßstabe 1:3 herstellen. Bald darauf

wurden unter H.s maßgeblicher Teilnahme zwei Projekte des originalgetreuen Nachbaus seines Flugzeugs RAK-1 durchgeführt – in Frankreich im Jahr 1989 und in Mannheim, im Jahr 1990. In Mannheim gelang es mit besonderer Akribie. Ab September.1990 begann man das Flugzeug als Exponat im Landesmuseum (heute Technoseum) zu zeigen, und H. veranstaltete gern Führungen zu diesem Exponat. Für einen gegenwärtigen Zuschauer sieht der Apparat klein und fragil aus. Trotzdem konnte H. am 21. September 1989, im Alter von fast 83 Jahren zum 60-jähriges Jubiläum seines Pionierfluges mit dem französischen Nachbau auf dem Flugplatz la Ferté Alais bei Paris einen Flug unternehmen, aufgenommen auf Video für Süddeutscher Rundfunk Mannheim. „Ich habe eine Butterlandung hingelegt, obwohl ich jahrzehntelang nicht geflogen bin“, erzählte H. nicht ohne Stolz (Eva Fauth, 2000).

H. bemühte sich auch, seine Mitgliedschaften bei verschiedenen Sport- und Fliegervereinen, die er nach 1933 verloren hatte, wieder herzustellen. Meistens zeigte es sich jedoch als kaum möglich, weil fast alle Vereine nach dem Krieg neu gebildet bzw. eingerichtet wurden. H.s Bestreben ist jedoch für ihn charakteristisch.

Es scheint, dass hinter allen diesen regen Aktivitäten H.s nostalgische Gefühle von seinen glücklichen jungen Jahren mit ihren Höhepunkten standen, sowie die Unzufriedenheit, wegen des Abbruchs seiner so erfolgreich begonnenen und vielversprechenden Ingenieurslaufbahn und auch das Verlangen, die verspätete Anerkennung nachzuholen.

„Seit einigen Jahren rücke ich zunehmend in das Interesse der jüngeren und objektiven Geschichtsschreibung und erlebe durch diese Anerkennung eine späte Genugtuung“, schrieb H. in einem Brief vom Dezember 1996 (Technoseum, JH Nr. 193)

Bis zum hohen Alter blieb H. sportlich und munter. So demonstrierte er 1991 für ein Kamerateam der ZDF die alten Skitechniken, wobei er, an der Kamera vorbeifahrend sie mit Sendemikrophon kommentierte. „Der alte J. H. fährt eben noch Ski wie ein junger Gott“, schrieb „Südkurier“ begeistert (Technoseum, JH Nr. 81). Wenn auch H. wegen eines Autounfalls das Skilaufen aufgeben musste, setzte er doch das Fliegen fort. 1993 flog er mit einem Heißluftballon am Feldberg (dies war die Belohnung für Nachbau des „Gelben Hundes“). H. durfte die Steuerung und das Kommando für den Einsatz der Feuerung übernehmen. Er wurde „auf den Namen ‚Julius, sympathischer Himmelsbaron‘ getauft und damit in den Adelstand der Ballonfahrer aufgenommen“, steht in seinem Urkunde (ebd., JH Nr. 143). Und sogar mit 93 Jahren, im Frühjahr 2000, flog er in Berlin ein kleines Motor-Flugzeug Cessna. Noch im September 2000 fuhr er wieder nach Kaluga, wohin er als Ehrengast zur Eröffnung der seinen Leistungen gewidmeten Ausstellung eingeladen war.

H. starb unerwartet an Herzversagen nach seiner Rückkehr aus Russland, fünf Wochen vor seinem 94. Geburtstag. 2016 übernahm die Stadt Mannheim die dauernde Erhaltung und Pflege der Grabstätte H.s m Hauptfriedhof als Ehrengrab.

Bilanz des langen Lebens

Körperlich und geistig kerngesund, besaß H. eine ungewöhnlich starke Lebenskraft. Dies macht verständlich seine außerordentlich vielseitigen Aktivitäten, die sein Leben ausfüllten – als Sportler, Flieger, Ingenieur, Filmemacher, Literat, Unternehmer, aber auch als „leidenschaftlicher Kämpfer für das technisch-historische Erbe einer wegweisenden Epoche“ (Filthaut, 2001, 12)..

Seine Sternstunde war wohl das Schaffen des ersten Raketenflugzeugs der Welt, auf dem er auch den ersten Flug ausführte. H. selbst wurde nicht vergönnt, diesen Erfolg weiter zu entwickeln. Seine Arbeiten beeinflussten aber Alexander Lippisch, dem es gelang, Anfang der 1940er Jahre bei Messerschmidt-Werken die ersten modernen Raketenflugzeuge zu schaffen.

H.s künstlerische und literarische Leistungen gehören zu Kulturgeschichte Deutschlands der Mitte des 20 Jahrhunderts. Sein Raketenflugzeug bleibt aber als ein international anerkannter Hohepunkt in der Entwicklung der Technik der Welt bestehen.

Q A TU München, PA. Stud. Hatry Julius (Studenten Akte H.); StadtA Mannheim (MARCHIVUM): NL Hatry, 3/2001, Nr. 1-81 (Nachlass J. H.); ZGS, S1/4416 (Biographische Sammlung H.); A des Technoseums, Mannheim: JH Nr 1-Nr. 200 (Nachlass J. H.); Auskünfte aus dem A d. TU München vom 23.05.2018 u. StadtA Schwetzingen vom 4.6.2018; Informationen von Herrn Thomas Hatry, Heidelberg.

                W Pioniere im Neuland, in: Neue Badische Landes-Zeitung, 1929, 3. Oktober, Nr. 503, S. 4

Zehn Jahre motorloser Flug, ebd., 1930, 13. März; Die Wissenschaft des Segelflugs, ebd., 6. April, Nr. 177, S.7; Die Sportfliegerei in Deutschland, ebd.., 2. Juli; Reform des Segelfluges!, in; Im Luftraum, Zs. des Badisch-Pfälzischen Luftfahrtvereins 4, 1930, Nr. 10, 1-2; Einweihung des Wilhelm von Opel-Hauses in Feldberg, in: Neue Badische Landes-Zeitung, 1930, 12. November; Windhundrennen in Heidelberg, ebd. 1932, 2. November, Nr. 559, S. 6; Die Deutschland-Flieger in Mannheim, ebd. 1933, 28. August, Nr. 431; Jean Anouilh, in: Der Freihafen, Mitteilungsblatt des Thalia-Theaters Hamburg, April 1948, 9-11; Der Oberst und der Dichter oder Das menschliche Herz : Schauspiel in drei Akten; nach einer gleichnamigen Erzählung von Alfred Döblin, 1949; Über frühe theoretische Arbeiten u. praktische Entwicklung von Raketen als Flugzeugantrieb und zu Katapultstart, in: Jahrbuch d. Dt. Ges. für Luft- u. Raumfahrt e.V. 1983, 128-1-128-29; Berlin-relevante Aktivitäten aus d. Frühzeit d. Raketentechnik u. d. Raumfahrt, in: Jahrbuch d. Dt. Ges. für Luft- u. Raumfahrt e.V. 1987, 929-939; Das erste Raketenflugzeug, in: Mannheimer Morgen 1988, Nr. 34, 11.02., S. 9.

L Anonym, J. H. wurde 80, in: aerokurier, 31, 1987, 231; Anonym, The Hatry Rocket-Plane and von Opel Flights, in: Space Frontiers 2, No. 6, January-February 1987, 17-26; Anonym, J. H. u. sein Raketenflugzeug. Wenig Ehre u. kein Geld, in: Flug Revue 37, 1987, H.3, 36f.; Lothar Sühling, J. H. (*1906). Das erste Raketenflugzeug d. Welt, in: Jorg Baldenhofer (Hg.), Badische Tüftler u. Erfinder, 1992, 85-93; Anonym, J. H. 90 Jahre, in; PV Mitteilungen [Zs d. Pilotenvereinigung Wasserkuppe e. V.] 1997, Nr. 1, 24-29 (mit Bildern); Klaus F. Filthaut, Projekt RAK, 1999, besonders 146-180, 212-217 (mit Bildern); Peter Sawatzki, Raketenpionier J. H. wurde Ehrenmitglied, in: Der Adler: Magazin für Luftsport u. Luftfahrt 57, 1999, 358f. (B):

Eva Fouth, „Auf Skiern habe ich Fliegen gelernt“. Der Luftfahrtpionier J. H. baute im Jahr 1929 das erste Raketenflugzeug d. Welt, in: Wiesbadener Tageblatt vom 24.10.2000, Nr. 247, S. 5 (Technoseum, JH Nr. 81); Klaus F. Filthaut, Gedanken an J. H., in: Mitteilungen d. Dt. Ges. für Luft- u. Raumfahrt, Liliental-Oberth e.V., 2001. Nr. 1, 11f. (B); Lothar Suhling, J. H. (1906-2000), Erinnerungen an einem Pionier d. Luft- u. Raumfahrttechnik, in: Mannheimer Geschichtsblätter N. F. 9, 2002, 345-357 (mit Bildern); Hans-Erhard Lessing, Mannheimer Pioniere, 2007, 175-186: J. H.: Raketenstart u. Raketenflug (B, S. 175)

B Foto 1927, A TU München, PA. Stud. Hatry Julius; BildA des Technoseums Mannheim: 2009/D/0084, Foto 1929; 2005/037, Foto 1986 u. zahlreiche Gruppenfotos von verschiedenen Jahren.

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