Schwarz, Karl Gottfried Robert, Chemiker
*17.12.1887, Berlin. Ev.. +13.06.1963 Aachen
V Karl Alfred Bruno S., Porzellanfabrikbesitzer ()
M Karoline Julia Pauline, geb. Hirsemenzel
G Ein älterer Bruder, gefallen im I. Weltkrieg
∞ 28.08. 1914, Freiburg, Margarethe Charlotte Marie Bahre (1892-1977)
K 3: Ursula Gabriele (*1917), Eva Beate (*1918), Margarethe Dorothea (*1920)
1893 IV – 1905 IV Schulbildung. Reifezeugnis des humanistischen Gymnasiums in
Spandau; anschließend SS1905 an der Keramischen Fachschule in Bunzlau
1905 X – 1910 III Chemiestudium an den Universitäten Breslau (WS 1905/06 – SS 1907), Berlin (WS 1907/08), Freiburg (SS 1908 – WS 1909/10)
1910 II 18 Promotion zum Dr. phil. mit d. Dissertation „Chemische Untersuchungen über Bohnerztone u. afrikanische Erden“
1910 IV – IX Volontär in d. chemisch-technischen Versuchsanstalt d. Kgl. Porzellan-Manufaktur zu Berlin
1910 XI – 1914 II Assistent am Chemischen Laboratorium d. Univ. Freiburg
1914 IIi Habilitation mit d. Schrift: „Beiträge zur Kenntnis d. Kieselsäure u. ihrer Salze“
1914 VIII – 1918 XI Heeresdienst, zunächst beim Badischen Dragoner-Regiment Nr. 22, nach Kämpfen in Frankreich zum Leutnant befördert; wegen schwerer Verwundung im August 1915 Ausscheidung aus den Frontdienst und Verwendung als Gasoffizier in d. Heeresgasschule zu Berlin, ab April 1918 in Vogesen
1919 VII – 1928 III a.o. Professor, ab April 1922 planmäßiger a.o. Professor für Anorganische Chemie und Abteilungsvorstand an d. Univ. Freiburg; 1925 Vertreter d. Chemie-Professur.
1928 IV – 1934 III Professor für anorganische u. analytische Chemie an d. Univ. Frankfurt (persönliches Ordinariat);
1932 X – 1934 III Dekan d. Naturwissenschaftlichen Fakultät
1934 IV -1945 I o. Professor u. Direktor des Chemischen Instituts an d. Universität Königsberg (mit Unterbrechung für WS 1936/37 als Professor für Chemie an d. TH Karlsruhe)
1948 XI – 1956 III o. Professor u. Direktor des Instituts für Anorganische Chemie u. Elektrochemie an d. RWTH Aachen
1951-1952 Dekan d. Fakultät für Allgemeine Wissenschaften
1952 VII – 1954 VI Rektor
Ehrungen: Mitglied d. Deutschen Akad. d. Naturforscher Leopoldina, Halle (1940); Alfred-Stock-Gedächtnispreis d. Ges. Deutscher Chemiker (1952); korr. Mitglied d. Bayerischen Akad. d. Wissenschaften (1953); Dr. rer. nat. h.c., Univ. München (1955); Großes Verdienstkreuz des Verdienstorden BRD (1957); Ehrensenator d. RWTH Aachen (1957); Dr. rer. nat. h.c., Univ. Göttingen (1960); Dr. techn. h.c., TH Graz (1963).
S. ist einer der wenigen führenden Forscher, die zum Wiederaufblühen der präparativen Anorganischen Chemie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entscheidend beitrugen. Er bereicherte die präparative Chemie mit wichtigen neuen Methoden und entdeckte viele Dutzende neuer Verbindungen, teilweise auch bis dahin unbekannte Stoffklassen.
S. wurde in eine großbürgerliche Familie geboren. Sein Vater, der Kaufmann Bruno S., unterstützte ab 1869 die 1865 in Berlin gegründete Porzellan-Manufaktur „W. Haldenwanger“ mit seinem Geld und wurde 1882 ihr alleiniger Inhaber. Den bereits bekannten Namen der Firma ließ er unverändert, verlagerte aber die Fabrik auf einen passenderen Ort, nach Alt-Pichelsdorf bei Spandau.
S. beendete Ostern 1905 seine Schulzeit am 1853 in Spandau gegründeten humanistischen Gymnasium, sehr interessiert an Literatur und Musik, wurde er aber Chemiker. Zweifellos prägten ihn Eindrücke der väterlichen Fabrik, wo sich die Rohmaterialien in glühenden Öfen in Porzellan verwandelten.
Nach dem Wunsch seines Vaters verbrachte der Abiturient S. sein erstes Semester an der keramischen Fachschule in Bunzlau, Schlesien (heute Boleslawiec, Polen). Dort erlernte er das Handwerk der Porzellanherstellung. Ab Herbst 1905 begann S. sein Studium; zunächst in Breslau, dort waren seine Lehrer Albert Ladenburg (→V, 168) und Richard Abegg (1869-1910). Das Wintersemester 1907/08 verbrachte S. in Berlin. Er arbeitete im Praktikum am Chemischen Institut des Nobelpreisträgers Emil Fischer (1852-1919) unter Anleitung von Privatdozent Alfred Stock (1876-1946), einem aufsteigenden Stern der anorganischen Chemie. Bei ihm erkannte S, zum ersten Mal den Umgang mit Wasserstoffverbindungen von Bor und Silizium
Sein Studium schloss S. in Freiburg ab. Das Chemische Laboratorium (Institut) der Universität leitete der sehr bedeutende Chemiker Ludwig Gattermann (→V, 89). Bei ihm erlernte S. insbesondere Techniken der Arbeit mit luftempfindlichen Stoffen, was er später meisterhaft anwendete. Obwohl S. die raffinierte Experimentalkunst der Organischen Chemie fleißig studierte, neigte er jedoch zur Anorganischen Chemie, speziell zu Themen, die mit Bedürfnissen des Porzellanbetriebs verbunden werden könnten.
Kein Wunder, dass S. seine Dissertation auf dem Gebiet der Silikatenchemie anfertigte, Sein Doktorvater war der vielseitige Chemiker Wilhelm Meigen (1873-1934), damals Extraordinarius an Gattermanns Institut, der sich insbesondere mit Verwitterungsprodukten von Silikaten beschäftigte. Nach Meigens Anregung untersuchte S. zwei Arten von solchen Produkten – aus dem Schwarzwald und aus Kamerun. Am 18. Februar 1910 bestand S. das Rigorosum mit Chemie als Hauptfach und Physik und Geologie als Nebenfächern mit Note I.
Jetzt hatte der junge Dr. phil. nach dem Wunsch seines Vaters ein Semester lang als Volontär bei der Staatlichen Porzellan-Manufaktur zu Berlin zu arbeiten. In der chemisch-technischen Versuchsanstalt beschäftigte er sich mit Studien über Keramik und Silikatenchemie. S. war aber mit dem durchaus empirisch-intuitiven Ansatz der damaligen Porzellan-Fabrikation so unzufrieden, dass er sich nach diesem praktischen Semester für die wissenschaftliche Laufbahn entschied. Zur tiefen Enttäuschung des Vaters und gegen dessen Wunsch, ging S. nun nicht in die väterliche Fabrik, sondern kehrte, nach Vereinbarung mit Gattermann, nach Freiburg zurück.
Trotzdem fühlte sich S. für das väterliche Unternehmen verantwortlich und nach dem Tod des Vaters übernahm er die Führung der Fabrik. Es gelang ihm, ein zuverlässiges und leistungsfähiges Direktorium einzusetzen. Unter seiner Anleitung entwickelte sich das Familienunternehmen zu einer führenden Spezialfirma für Laboratoriumskeramik. Viele von S.‘ Arbeiten lagen auch im Interesse der Firma, an der er bis zum Lebensende beteiligt blieb. Das Familienunternehmen „W. Haldenwanger“ existierte bis 1997, als es dem britischen Konzern Morgan Crucible Company PLC verkauft wurde.
In Freiburg zurück, arbeitete S. drei Jahre lang als Volontärassistent bei Gattermann, wobei er „seine ganze Kraft wie ein besoldeter Assistent dem Laboratorium [widmete]“, so Gattermann (GLA 235/9032). Danach beantragte Gattermann erfolgreich eine planmäßige Assistentenstelle für S. beim badischen Kultusministerium.
Neben seinen Verpflichtungen in Praktika erforschte S. während dieser Zeit das chemische Verhalten von drei Modifikationen des Siliziumdioxids, nämlich von Quarz, Tridymit und Cristobalit bei deren hydrothermalen Behandlung. Weiterhin ermittelte S aufgrund der thermischen Analyse Zustandsdiagramme von zwei binären Systemen von Silizumsäuresalzen. Schließlich wurden die Schmelzwärmen von zwei Lithiumsalzen der Siliziumsäure bestimmt und das Molekulargewicht des Siliziumdioxids wurde aus den Schmelztemperaturen seiner Lösungen in einem geschmolzenen Lithiumsalz elegant ermittelt. Diese Ergebnisse legte S. im Februar 1914 als Habilitationsschrift vor. In seinem Gutachten schrieb Gattermann: „Die ebenso interessante wie wichtige Arbeit zeigt, dass der Verfasser ein außergewöhnliches experimentales Geschick besitzt; denn die Versuche waren ebenso langwierig wie schwierig. Bietet schon die neue Darstellung des Tridymits und der beiden Doppelsilikate ein besonderes Interesse, so muss die Bestimmung der Molekulargröße von Silikaten und Kieselsäure als fundamental wichtig betrachtet werden“ (UA Freiburg B15/602). Das Habilitationsverfahren wurde im März 1914 abgeschlossen und S. erhielt die Venia legendi.
Der frischgebackene Privatdozent kündigte sofort einige Vorlesungen an – über „Theorie der quantitativen Analyse“ und über „Chemie der radioaktiven Elemente“, sowie ein Seminar für anorganische Chemie. Seine kaum begonnene Lehrtätigkeit wurde aber durch den Kriegsausbruch abgebrochen.
Sofort meldete sich S. als Freiwilliger. Schon nach kurzer Zeit wurde er aufgrund seiner besonderen Tapferkeit auf den nordfranzösischen Schlachtfeldern zum Offizier befördert. 1915 wurde er Führer einer Kavallerie-Aufklärungseinheit an der Ostfront. Eine schwere Verwundung machte ihn, nach vielen Lazarettmonaten zum weiteren Frontdienst untauglich. Das Kriegsministerium setzte ihn im Sommer 1916 als Gasoffizier in die Heeresgasschule zu Berlin ein.
Bemerkenswert ist, dass S. während seines Militärdienstes in Berlin eine Monographie, „Feuerfeste und Hochfeuerfeste Stoffe“ verfassen konnte, , die zum Standardwerk wurde und dies mehrere Jahrzehnte blieb.
Ende 1918 wurde S. aus dem Militär entlassen und konnte nach Freiburg zu seiner Lehr- und Forschungstätigkeit zurückkehren. Bald wurde er zum außerplanmäßigen a.o. Professor ernannt. Er leitete das Praktikum in der anorganisch-analytischen Abteilung und las über Chemie der Komplexverbindungen, Analytische Chemie und Kolloidchemie. Ab SS 1922 wurde seine wichtigste Vorlesung die zweisemestrige „Spezielle anorganische Chemie“.
Ebenso wandte sich S. auch in seiner Forschung zunächst sehr verschiedenen Arbeitsrichtungen zu. So beschäftigte sich einer seiner ersten Doktoranden, Helmut Müller-Clemm (→BWB IV, 233) mit der Sulfitlauge. Mehrere Arbeiten widmete S. photochemischen Zersetzungen von Silberhalogeniden; daher entstand u.a. sein Patent über die Sensibilisierung photographischer Halogensilberschichten für Röntgenstrahlen durch Zusatz eines Talliumhalogenids. Einen wichtigen Gegenstand damaliger Forschungen bildeten Oxide von Übergangsmetallen wie Titan, Zirkonium, Vanadium, Thorium und Chrom – zweifellos in Verbindung mit seinem Interesse für feuerfeste Stoffe. Dabei entdeckte S. mit seinen Mitarbeitern mehrere neue Oxide.
Nach den ersten Jahren des Suchens wird die Chemie des Siliziums zum Hauptforschungsgebiet für S.. Besonders wichtig war der erstmalige Beweis der Existenz definierter Kieselsäuren, die in kristalliner Form isoliert wurden. Damit wurde die damalige Anschauung widerlegt, dass Kieselsäuren aus Siliziumdioxid mit unbestimmter Quantität absorbierten Wassers bestünden und keine definierten Verbindungen seien.
1928 wurde S. als persönlicher Ordinarius auf den Lehrstuhl der Anorganischen Chemie In Frankfurt berufen. Dort las S. den zweisemestrigen Kurs „Spezielle anorganische Chemie“, beteiligte sich bei der Leitung von Praktika und Kolloquien, konzentrierte sich aber vor allem auf Forschungsarbeiten, die er zusammen mit Diplomanden und Doktoranden durchführte. Als ein Höhepunkt gilt die hydrothermale Darrstellung von Kaolin aus dem Feldspat (1933), das Ergebnis langjähriger bereits in Freiburg begonnener Forschungen. Sehr wichtig war auch die Einführung der glimmenden elektrischen Entladung als Methode der präparativen Chemie. So wurden mehrere neuen Reaktionen entdeckt, die insbesondere zu bisher unbekannten Verbindungen von Schwefel geführt haben.
Es gibt einen Hinweis (Hammerstein, 1989, 378), dass S. 1931 ein sehr verlockendes Angebot von Seiten der Industrie abgelehnt hatte, um seine Forschungen nicht unterbrechen zu müssen.
Binnen weniger Jahre errang S. solch ein Ansehen unter den Kollegen, dass man ihn 1932 zum Dekan der Naturwissenschaftlichen Fakultät wählte.
Ab 1. Mai 1933 wurde S. Mitglied der NSDAP. Die tatsächlichen Motive dieses Schritts sind heute nicht herauszufinden. Einerseits war S. sicher deutsch-national eingestellt: Er gehörte ja zur im Kaiserreich aufgewachsenen Generation, für die Treue dem Vaterland gegenüber und Pflichtenerfüllung an erster Stelle standen. So ist zu vermuten, dass er auf ein Wiederauferstehen Deutschlands unter Nationalsozialismus hoffte. Andererseits sollte er als Dekan auch den damaligen Spielregeln folgen.
Ende 1933 erhielt S. einen Ruf nach Königsberg als ordentlicher Professor und Direktor des Chemischen Instituts. Die Stelle wurde vakant, weil ihr Inhaber wegen seiner jüdischen Abstammung entlassen wurde. S. folgte dem Ruf, umso mehr, als die Umstände in Frankfurt wachsende Zukunftsangst weckten. S. selbst, als Dekan, musste mehrere fähige Dozenten wegen ihrer nichtarischen Abstammung „beurlauben“ lassen.
In der Sitzung der Philosophischen Fakultät der Königsberger Universität am 22. Juni 1934 wurde S. in den Lehrkörper der Fakultät eingeführt.
Inzwischen wurde der Lehrstuhl für anorganische Chemie an der TH Karlsruhe vakant: Der Lehrstuhlinhaber, Alfred Stock, einer von S.‘ Lehrern, sehr bedeutender Anorganiker, ging in den Ruhestand. Die TH unternahm große Bemühungen, um S. auf diese Stelle zu gewinnen und diese Berufung in Berlin durchzusetzen. S. nahm den ehrenvollen Ruf an und begann Pläne für eine Erweiterung des Instituts für anorganische Chemie zu erarbeiten. Bald aber zeigte sich, dass die Gesundheit seiner Frau beim Klimawechsel sehr gefährdet wurde. Im Dezember 1936 ließ S. sie nach Königsberg zurückkehren und begann seine eigene Wiederanstellung in Königsberg vorzubereiten. So blieb er in Karlsruhe nur ein Semester.
Als Ordinarius für Chemie las S. die zweisemestrige Hauptvorlesung über Allgemeine Experimentalchemie, leitete Praktika und Kolloquium im Chemischen Institut und wirkte außerdem als Vorsitzender des Bezirksvereins Ostpreußen des Vereins Deutscher Chemiker. Gleichzeitig war er aktiv in der Königsberger Gelehrten Gesellschaft und eine Zeit (1941-1943) war er ihr Geschäftsführender Sekretär.
Der Schwerpunkt seiner Tätigkeit blieb nach wie vor die Forschungsarbeit. In die Königsberger Zeit fällt die wohl bedeutendste methodische Leistung S.‘ auf dem Gebiet der präparativen Chemie, nämlich die Einführung des Abschreckrohrs (d.h. „heiß-kalten“ Rohr) für die Synthese nicht stabiler oder sehr reaktionsfähiger Stoffe. Mit dieser Methode wurden zunächst mehrere neue Verbindungen des Siliziums mit Chlor synthetisiert (1937-1939). Anschließend erweiterte S. die Anwendung dieser Methode auch in der organischen Chemie (1940-1941). Nach dem Krieg wendete S. dieses Prinzip zur Herstellung reinen Germaniums an, wonach es als Ausgangspunkt in die Technologie der Halbleiterfabrikation eingeführt wurde.
Als Bombenangriffe die Arbeit in Königsberg unmöglich machten, setzte S. die Verlegung seines Forschungslaboratoriums nach dem Örtchen Naßfeld bei Badgestein (Österreich) durch. Denn alle seine Arbeiten wusste er als „kriegswichtig“ darzustellen und dazu ein „Chemisches Heereslaboratorium“ einzurichten. So befand sich S. mit dem größten Teil seiner Mitarbeiter ab Herbst 1944 und bis zum Kriegsende in Österreich.
Nach dem Zusammenbruch zog S. mit seiner Familie in die Heimatstadt seiner Frau, Lübbecke in Westfalen. Als Privatmann betrieb er nun literarische Arbeiten, insbesondere für das Projekt Naturforschung und Medizin in Deutschland 1939-1946, ursprünglich „FIAT-Review of German Science 1939-1946“ [FIAT = Field Information Agency, Technical]. Im September 1946 beteiligte er sich an der Gründung einer „Gesellschaft Deutscher Chemiker in der britischen Zone e. V.“ mit Sitz in Göttingen und hielt dort den Vortrag „Neues aus der Chemie langkettiger Silizium-Verbindungen. Jedoch musste er auf sein Entnazifizierungsverfahren warten, da er als ehemaliges Parteimitglied sonst an keiner Hochschule arbeiten durfte. Bezeichnend klingt der Geburtstagswunsch zu seinem 60jährigen Jubiläum: „Wir wünschen Ihnen vor allem, nachdem Sie Ihre bisherige Arbeitsstätte infolge der Zeitumstände verloren haben, recht bald eine neue Wirkungsstätte, damit Sie auch weiter eine segensreiche Tätigkeit zum Nutzen unserer Wissenschaft entfalten können“ (Anonym, 1947). Schon damals knüpfte S. Kontakte mit einigen Hochschulen, insbesondere mit der TH Aachen. Er besorgte viele Leumundszeugnisse, unter anderem von Otto Hahn und Hermann Staudinger, dass er und nur ein nominales Mitglied gewesen sei. So bezeugte Staudinger: „Ich weiß, dass er die Methoden des Nationalsozialismus auf das schärfste verurteilt hat und dass er innerlich demselben sehr fernstand“ (LA NRW, Duisburg: NW 1079 Nr. 3613). Als Ergebnis wurde S. am 8. August 1947 durch die „Denazifizierungskommission“ in Aachen entlastet. Danach erhielt er die Stelle als o. Professor und Direktor des Instituts für Anorganische Chemie und Elektrochemie an der TH Aachen.
Auf diesem Posten, später auch als Dekan, trug er sehr wesentlich zum Wieder- und Weiteraufbau der TH bei. Ihm ist es u. a. zu verdanken, dass sein veraltetes und weitgehend kriegszerstörtes Institut in den Jahren 1951-1953 „in großzügiger Weise auf dem Königshügel aufgebaut wurde“ (Wiberg, 1963, 230), als es noch vermessen schien, außerhalb des alten Hochschulgeländes Großbauten zu errichten.
Auch in diesem Institut war die Forschungsarbeit der Schwerpunkt seiner Tätigkeit. Eine wichtige Forschungsrichtung bildete damals die Entwicklung thermisch hochbeständiger Isoliermaterialien für elektrotechnische Zwecke. Dafür benutzte S. die durch ihn als ersten synthetisierten Kieselsäureester. Vermutlich hatte er diese Arbeiten schon in Königsberg begonnen: Das erste Patent auf diesem Gebiet wurde bereits aus Lübbecke gemeldet. Diese Erfindungen verkaufte S. der interessirten Firma Siemens-Schuckert AG.
Nach einem Jahr als Dekan wurde S. zum Rektor der TH gewählt. Seine Rede bei der Rektoratsübernahme widmete S. der internationalen Zusammenarbeit bei der Entwicklung der Chemie. Seine These war, dass „die Chemie <…>, um mich einer Goetheschen Metapher zu bedienen – eine große Fuge ist, in der die Stimmen der Völker nach und nach zum Vorschein kommen“ (1952, Chemische Forschung, 17-18). Seinen interessanten Überblick über die Entwicklungsgeschichte der Chemie schloss er mit folgenden Worten: „Wir sind der Überzeugung, dass nur gemeinsames Wirken aller gutwilligen Geister die Menschheit weiter und höher hinaufführen wird. Und was in der Chemie von jeher gegolten hat und heute noch gilt, sollte das nicht auch für Wirtschaft und Politik ein Vorbild sein und zur Nacheiferung anspornen?“ (ebd., 22).
Es gilt, dass S. als Rektor und anschließend als Prorektor (1954-1956) „entscheidend dazu beigetragen [hat], die <…> Aachener Alma Mater zur größten Technischen Hochschule des Bundesgebiets zu machen“ (Schmeßer, 1963, 10).
Die Ansprache S.‘ bei der Rektoratsübergabe deckt seine allgemeinen Einstellungen als Hochschullehrer auf: „Es sollte eine hohe Aufgabe des Älteren sein, sein im Laufe des Lebens in heißem Bemühen erworbenes Kulturgut weiterzugeben, damit es wie Same fruchtbar aufgehe und sich in der nächsten Generation erneuere“ Und zusammenfassend mit Heisenbergs Worten: „Wir wollen, dass unsere Jugend allen äußeren Wirren zum Trotz in der geistigen Welt des Abendlandes aufwächst, um an die Kraftquellen zu gelangen, von denen unser Erdteil durch über zwei Jahrtausende gelebt hat“ (Ansprache 1. Juli 1954, 11, 12).
Zahllose Studenten von S. bezeichneten ihn als Lehrer ohnegleichen. Ein Zitat aus seinem „Praktikum“ kann vielleicht ein wenig Licht in S.‘ Methode bringen: „Führe jeden Versuch erst dann aus, wenn Du Dir den Vorgang, der sich dabei abspielt, wirklich klar gemacht hast“ (Chemisches Praktikum, 1941, 8).
Seinen Doktoranden räumte S. viel Selbständigkeit ein, bei den Entscheidungen aber behielt er sich das Sagen, allerdings ohne Druck. Sieben von seinen Schülern wurden selbst Professoren.
Nach dem Erreichen der Altersgrenze emeritierte S. am 31. März 1956. Im Ruhestand verlebte er viel Zeit in Freiburg. „Er blieb bis zu seinem Tode 1963 dem Chemischen Institut in Freiburg eng verbunden und bezeichnete die Zeit in Freiburg stets als seine glücklichsten und fruchtbarsten Jahre“ (Thiele, 2007, 196).
Das wissenschaftliche Werk S.‘ ist „ungemein breit“ (Wannagat, 1964, 869). Es spiegelt in seinen über 200 Publikationen und darüber hinaus in etwa 60 Patenten wider. Als Höhepunkte seiner Leistungen gelten insbesondere: Die Darstellung von kristallisierten Kieselsäuren; die Entdeckung vieler flüchtiger Silizium-Chlor-Verbindungen; die Pionierarbeiten in der Chemie des Germaniums, u. a. die Synthese von Germanium-Wasserstoff-Verbindungen; die Darstellung von technisch wichtigen Kieselsäureestern; die Verbindung der Chemie des Siliziums mit physiologisch-chemischen Aspekten, so mit der Entstehung der Silikose. S.‘ Ruhm in der Fachwelt basierte wohl auf seinen bahnbrechenden Arbeiten in der Chemie des Siliziums, die zur Klassik geworden sind und in allen Lehrbücher der Chemie gehören.
Q UA Freiburg: B 31/2374, Promotionsakte S.; B 15/602, Habilitation S.; B 24/4353, Personalakte S., B 1/4319, Assistenten des Chemischen Laboratoriums; B 15/184, 50 Jahre d. Doktorats S.; GLA Karlsruhe: 235/9032, Personalakte S.; AKIT (ehemals UA Karlsruhe): 23001/27, Akte des Instituts für anorganische Chemie; 28002/444, Rektoratsbescheid über den Tod S.s; 21001/51, die Besetzung des Lehrstuhls für anorganische Chemie; LA NRW, Duisburg: NW 1079 Nr. 3613 u. NW 1067 Nr. 2884: Entnazifizierungsakten S.; Auskünfte aus dem: UA Frankfurt vom 30.05.2016, A d. RWTH Aachen vom 3. u. 6.06.2016, LA NRW, Duisburg, vom 8.08. u. 2.09.2016; StadtA Freiburg vom 22.08.2016;
W Chemische Untersuchungen über Bohnerztone u. afrikanische Erden, 1910 (Diss.);
Über das chemische Verhalten d. verschiedenen Modifikationen d. Kieselsäure, in: Zs. für anorganische Chemie 76, 1912, 422-424; (mit H. Sturm) Bestimmung d. Schmelzwärme des Li2SiO3 u. Li4SiO4, in: Berichte d. Deutschen Chemischen Ges. 47, 1914, 1730-1735; (mit H. Sturm) Versuch zur Bestimmung d. Molekülgroße des Kieselsäure-Anhydrids, ebd., 1735-1740;
Ammoniumsilicat, ebd. 49, 1916, 2358-2364; 52, 1919, 601-606; Feuerfeste und hochfeuerfeste Stoffe, 1918, 21922; (mit H. Deisler) Zur Existenzfrage des Zirkonmonoxyds, in: Berichte d. Deutschen Chemischen Ges. 52, 1919, 1896-1903, 53, 1920, 1; (mit R. Souard) Ammoniumsilicat III, ebd. 1-17; Ludwig Gattermann+, in: Chemiker-Zeitung 44, 1920, 513; (mit H. Müller-Clemm) Zur Kenntnis d. Sulfitlauge, in: Zs. für angewandte Chemie 34, 1921, 272-275, 599f.; (mit A. Haacke) Über die binären Systeme des Lithium-orthosilikates mit Zirkon-orthosilikat u. Kalzium-orthosilikat, in: Zs. für anorganische Chemie 115, 1921, 87-99; (mit G. A. Mathis) Über Ammoniakate kieselsaurer Salze, ebd. 126, 1923, 55-84; (mit Fr. Stöwener) Über Alterungserscheinungen an Kieselsäure-Gelen, in: Kolloidchemische Beihefte 19, 1924, 171-202; Filterkonusse aus porösem keramischen Material, in: Zs. für angewandte Chemie 38, 1925, 788; (mit H. Merck) Beitrag zur Konstitution des Porzellans, in: Zs. für anorganische Chemie 156, 1926, 1-16; (mit G. Meyer) Zur Kenntnis d. Chlorosäuren, ebd. 166, 1927, 196-212; (mit E. Reidt) Zur Kenntnis hochschmelzender keramischen Massen. Eine Untersuchung über die Systeme Kaolin-Tonerde-Feldspat u. Kaolin-Zirkonoxyd-Feldspat, in: Zs. für anorganische u. allgemeine Chemie 182, 1929, 1-18; (mit P. W. Schenk) Versuche zur Aktivierung von Schwefel, ebd., 145-158; (mit W. Kunzer) Über den Einfluß d. stillen elektrischen Entladung auf Schwefelwasserstoff, ebd., 183, 1929, 287-295; (mit W. Kunzer) Über die Wirkung elektrischer Entladungen auf chemische Reaktionen, ebd., 376-383;
(mit E. Huf) Über das Germaniumdioxyd, ebd. 203, 1931, 188-218; (mit Fr. Heinrich) Trichlormonogerman u. Germaniumoxychlorid, ebd. 209, 1932, 273-276; Vom chemischen Denken, 1933; Über die Chemie des Germaniums, in: Angewandte Chemie, 48, 1935, 219-223;
Chemische Studien über tonige Verwitterung u. Kaolinisierung, in: Schriften d. Königsberger Gelehrten Ges, 13, H. 2, 1936, 13-26; (mit H. Meckbach) Über ein Siliciumchlorid d. Formel Si10Cl22, in: Zs. für anorganische u. allgemeine Chemie 232, 1937, 241-248; (mit G. Pietsch) Versuche zur Darstellung des Siliciumchlorides, ebd., 249-256; Neuartige Verbindungen des Siliziums, in: Angewandte Chemie, 51, 1938, 328-331; Vom Stein d. Weisen, in: Schriften d. Königsberger Gelehrten Ges, 15, H. 2, 1938/1939, 16-29; (mit U. Gregor) Über ein Siliziumchlorid d. Formel SiCl, in: Zs. für anorganische u. allgemeine Chemie 241, 1939, 395-415; Chemie des Siliziums, in: Angewandte Chemie 53, 1940, 6-11; (mit D. Pflugmacher) Pyrogene Kohlenwasserstoffsynthesen im Abschreckrohr, in: Journal für praktische Chemie 156, 1940, 205-220; (mit P. W. Schenk) Chemisches Praktikum für Mediziner, 1941, 21943, 31945; 17. Jahresbericht d. Königsberger Gelehrten Ges., in: Schriften d. Königsberger Gelehrten Ges. 17, 1941, 1-5; Kohlenstoff u. Silizium, in: Schriften d. Königsberger Gelehrten Ges, 18, Naturwiss. Kl., H. 5, 1942, 59-77; Die Chemie des Germaniums mit besonderer Berücksichtigung d. Beziehungen zu seinen Nachbarelementen, in: Angewandte Chemie 55, 1942, 43-45; Über die Verwandtschaft von Silizium- u. Kohlenstoff-Chemie, ebd. 56, 1943, 258-262; (mit C. Danders) Formel u. Konstitution eines Silicosebazinsäurederivates [1944], in Zs. für anorganische Chemie 253, 1947, 273-280; Neues aus d. Chemie langkettiger Silicium-Verbindungen, in: Angewandte Chemie 59, 1947, 20-22; Die physiologische Bedeutung d. Spurenelemente, in: Ärztliche Wochenschrift 1/2, 1946/47, 743-745; Halogenverbindungen, in: Naturforschung u. Medizin in Deutschland 1939-1946, Bd. 23 Anorganische Chemie, 1949, 167-174; Stickstoffverbindungen, ebd., 197-209; Silizium- u. Germanium-Verbindungen, ebd., 256-273; Über die Peroxysalpetersäure, in Zs. für anorganische Chemie 256, 1948, 3-9; Das Polaritätsprinzip in d. Chemie, in: Chemiker-Zeitung 74, 1950, 13-15; (mit J. Hippert) Das elektrische Leitvermögen einiger feuerfester keramischer Massen bei Temperaturen bis zu 1400oC, in: Zs, für Elektrochemie 55, 1951, 387-395; (mit A. Köster) Über ringförmig gebaute Siliciumchloride, in: Zs. für Naturforschung 7b, 1952, 57f.; Wesen u. Bedeutung d. Siliciumchemie, in: Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, 4, H. 21, 1952, 7-22; (mit J. Johann u. A. Zörner) Die Bestimmung von Eisensiliciden, Siliciumcarbid u. Siliciumdioxid nebeneinander, in: Zs. für analytische Chemie 135, 1952, 161-179; Chemische Forschung, Beispiel u. Erfolg internationaler Zusammenarbeit (Rektoratsrede 30. Juni 1952), in: Jahrbuch d. RWTH Aachen 5, 1952/53, 17-22; Ansprache des Rektors bei d Feier d. Eröffnung des akademischen Jahres 1953/54, ebd. 6, 1954/55, 9-14; Ansprache bei d. Rektoratsübergabe am 1. Juli 1954, ebd. 7, 1955/56, 11-16; Die Chemie des Siliciums, ebd., 60-65; (mit E. Baronetzky) Über die Herstellung metallischen Germaniums im Abschreckrohr, in: Zs. für anorganische u. allgemeine Chemie 282, 1955, 280-285; Die Chemie des Siliciums, in: Angewandte Chemie 67, 1955, 117-123; (mit E. Baronetzky) Ein chemischer Beitrag zum Silicose-Problem, ebd. 68, 1956, 573-577; (mit H. W. Hennicke) Über die kristalline Dikieselsäure u. ihre Eignung als Modellsubstanz, in: Zs. für anorganische u. allgemeine Chemie 283, 1956, 346-350; (mit K. Schoeller) Zur Kenntnis d. Silicophosphorsäure-Derivate, in: Chemische Berichte, 91, 1958, 2103-2108. Mitherausgeber d. „Zeitschrift für allgemeine u. anorganische Chemie 1942-1958.
L NDB 24, 2010, 9; Poggendorffs Biographisch-literarisches Handwörterbuch V, 1926, 1142f., VI, Teil 4, 1940, 2394f., VIIa, Teil 4, 1961, 346-348, VIII, Teil 3, 2001, 2195; Lexikon bedeutender Chemiker, 1988, 390; Anonym, R. S. zum 60. Geburtstage am 17.12.1947, in: Zs. für anorganische Chemie 255, 1947, 1; W. Klemm, Verleihung des Alfred-Stock-Gedächtnispreises dem Prof. Dr. R. S., in: Angewandte Chemie 64, 1952, 351f.; R. E. Oesper, R. S., in: Journal of Chemical Education 30, 1953, 510; Anonym, R. S., in: Nachrichten aus Chemie u. Technik 4, 1956, 319 (B); B. Helferich, R. S. 70 Jahre, ebd. 5, 1957, 362f.; M. Schmeisser, Prof. Dr. Dr. h.c. R. S. zum 75. Geburtstag am 17. Dezember 1962, in: Zs. für Elektrochemie 66, 1962, 777f. (B); M. Schmeißer, R. S.+, in: Alma mater aquensis 1, 1963, 76-78 (B); E. Wiberg, R. S. +, in: Jahrbuch d. Bayerischen Akad. d. Wissenschaften für 1963, 229-234 (B zwischen S. 224 u. 225); U. Wannagat. Zur Entwicklung d. Silizium-Chemie. R. S. zum Gedächtnis, in: Angewandte Chemie 76, 1964, 869-873 (B); Notker Hammerstein, Die Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Bd. I: 1914-1950, 1989, 238, 321, 378-384; U. Wannagat, Die Gelehrten des Faches Chemie an d. Universität Königsberg in d. ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Jahrbuch d. Albertus-Universität zu Königsberg/Pr. 29, 1994, 641-662; Gerhardt Thiele, Der Weg vom Porzellan zur Halbleitertechnik. R. S.(1887-1963) u. die Chemie von Silizium u. Germanium, in: 550 Jahre Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Bd. 4, 2007, 195f..Christian Tulitzki, Protokollbuch d. Philosophischen Fakultät d. Albertus-Universität zu Königsberg i. Pr. 1916-1944, 2014, 628; Altpreußische Biographie, Bd. V, Teil 2, 2015, 1695f..
B Vgl. L