Boehringer, Ernst, Unternehmer
*28.06.1860 Stuttgart. Ev. +14.09.1892 Chievenna, Italien
V Christoph Heinrich B. (1820-1882), Unternehmer
M Mathilde, geb. Spring (1828-1902)
G 6: Anna (1850-1926), verh. mit Wilhelm Wunderlich; Maria (1853-1919), verh. mit Hermann Gauger; Bertha (1856-1925), verh. 1877 mit Hermann Heinrich Müller; Albert (1861-1939), Unternehmer, Begründer d. Fa. Boehringer Ingelheim; Mathilde (1858-1928), verh.1883 mit Karl von Rambaldi; Clara (1863-1935), verh. 1883 mit Ewald Hornig.
∞1889, Mannheim, Franziska (Fanny genannt) Luise Marie Jörger (1868-1936)
K 1: Fanny Mathilde Marie (1890-nach 1968)
1872 IX Umzug d. Familie aus Stuttgart nach Mannheim
1872 X – 1877 VI Besuch des Realgymnasiums zu Mannheim; Reifezeugnis vom 3. Juli 1877
1877 -1882 Vermutlich Arbeit in d. väterlichen Firma „C. F. Boehringer & Söhne“
1882 III – 1883 VII Leitung d. Firma zusammen mit seiner Mutter.
1883 VII – XI Alleiniger Inhaber d. Firma
1883 XI 25 Vertrag mit Fr. Engelhorn jr. über dessen Eintritt in die Firma als Teilhaber
1884 – 1892 Kaufmännische Leitung d. Firma
B. gehört zur dritten Generation derjenigen Unternehmer, denen Südwestdeutschland den Aufschwung seiner chemischen Industrie verdankt. B.s Großvater gründete in Stuttgart die chemisch-pharmazeutische Firma „C. F. Bohringer & Söhne“, damals mit der Chinin-Produktion als Grundlage, und B.s Vater verlegte sie, um ihre weitere Entwicklung zu ermöglichen, nach Mannheim, Jungbusch. (s. Boehringer, Christoph). So ließ sich die Familie 1872 in Mannheim nieder, und der Stuttgarter B. wurde mit 12 Jahren nun Mannheimer.
1872-1877 besuchte er das Realgymnasium, das kurz zuvor aus der Mannheimer Höheren Bürgerschule entstanden war. Dank der Bemühungen des ersten Leiters der Schule und des Gymnasiums, Heinrich Schröder (1810-1885), war die Anstalt außerordentlich gut, insbesondere für Chemie und Physik eingerichtet und hatte einen dazu sehr qualifizierten Lehrkörper. B. lernte dort von der Unter-Tertia bis zur Prima und im Juli 1877 bestand er die Abschlussprüfungen. Er verließ das Gymnasium mit dem Zeugnis der Reife zum Übergang auf das Polytechnikum, wobei notiert wurde, dass B. Chemie studieren werde.
Vermutlich war das jedoch nicht der Fall: Jedenfalls gibt es Spuren von B.s Studium weder in den Akten der damaligen Polytechnischen Hochschule zu Karlsruhe, noch in den leider lückenhaften Akten der Technischen Hochschule (damals Polytechnikum) Stuttgart, noch in den Akten der Technischen Hochschule Darmstadt. Es ist unklar, ob B. eine weitere Ausbildung genoss, außer der Erfahrung, die er im Geschäft seines Vaters bekommen konnte. Vermutlich hatte sich B. sofort nach seinem Schulabschluss in das väterliche Unternehmen eingegliedert, weil sein Vater verlangte, dass B. unverzüglich an seine Seite kommen sollte. Denn damals schon plante er eine Verlegung des Betriebs aus dem Jungbusch auf ein von der Stadt weiter entferntes Gelände; es gab viel zu tun, und der alternde Vater fühlte schon, dass ihm nur noch wenig Zeit bleibe. Und wirklich starb Christoph B. bereits im März 1882.
Entsprechend seinem letzten Willen führte seine Witwe Mathilde zusammen mit ihrem Sohn Ernst die Firma unverändert fort. Sie konnten zunächst den Plänen des verstorbenen Familienvaters folgen: Der Umzug des Betriebs aus Jungbusch auf das kürzlich erworbene Gelände war bereits im Gange. Während 1881-1883 wurde die Fabrik in Waldhof eingerichtet. (Das Büro blieb im Jungbusch bis 1886). Dieses Zusammenwirken war offiziell geregelt: Im Handelsregister datiert vom 26. Mai 1882 die entsprechende Eintragung: »Die Firma ist mit dem Tod des Christoph Boehringer auf dessen Witwe Mathilde Boehringer, geb. Spring, übergegangen, welche das Geschäft fortführt. Collectiv-Procura bleibt bestehen«. Und weiter: »Ernst Boehringer, Chemiker und Kaufmann, ist Procura ertheilt mit der Befugnis zur Alleinzeichnung« (Mit Menschen…, 2010, 24).
Mathilde B. entschied sich jedoch bald dafür, die Verantwortung für die Firma in die Hände ihres Sohnes Ernst zu legen. Im Juli 1883 wurde ein Kaufvertrag unterschrieben, nach dem B. das Unternehmen von seiner Mutter kaufte. Die Geschwister wurden ausbezahlt.
So wurde B. alleiniger Leiter des schnell sich entwickelnden Unternehmens. Mit 23 Jahren, ohne genügende chemische Ausbildung fühlte er sich dieser Rolle nicht gewachsen. Mit der Übernahme des Geschäfts hatte er aber jetzt das Recht, einen Teilhaber in die Firma aufzunehmen. So unternahm er einen klugen Schritt – fand, nach Vermittlung von Friedrich Engelhorn, einen Partner mit gutem chemischem Hintergrund in der Person Dr. Friedrich (Fritz) Engelhorn jr. (s. dort). Dabei hatte Engelhorns Vater 1 Mio. Mark für den Sohn eingezahlt, um ihn zum gleichberechtigten Mitbesitzer der Firma zu machen. Im Dezember 1883 wurde der „Gesellschaft-Vertrag“ unterzeichnet: B. und Engelhorn „vereinigten sich zum Betriebe des seither unter der Firma ‚C. F. Boehringer & Söhne‘ bestehenden Fabrikations- und Handelsgeschäftes“ (Friedrich Engelhorn-Archiv, S 1/38).
Die Kompagnons freundeten sich bald an. Die Zusammenarbeit der beiden Partner war von Vertrauen geprägt und zeigte sich sehr erfolgreich. Dabei kam dem fünf Jahre älteren Engelhorn die führende Rolle im Betrieb zu, während B. sich dem Handel widmete.
Die Jahre 1883-1884 waren für ihn besonders anstrengend. 1883 geriet die Chinin-Industrie durch das unerwartete Angebot von Chinarinde aus Holländisch Indien in äußerst schwierige Lage: Als Folge war der Preis für Chinin mehrmals gesunken. B. reiste unermüdlich – durch Deutschland, nach Italien, nach Holland, nach England, in die USA – um zuverlässige Käufer zu gewinnen, potentieller Konkurrenz vorzubeugen und sich mit ernsten Konkurrenten zu verständigen. Er ersann kaufmännische Konstruktionen und besprach sie auch mit Fr. Engelhorn sen.
Einige Zeilen aus B.s Briefen an Engelhorn während seiner Dienstreise in die USA geben einen Einblick in sein damaliges Leben und seine Tätigkeit:
„Seit Freitag bin ich also im Lande der Freiheit. Die Seereise ging ziemlich rasch von Statten obgleich das Wetter mehr und mehr sehr stürmisch war, einige Tage war ich stark seekrank…New York hat mir einen großartigen Eindruck gemacht. Der Verkehr in dem Geschäftsviertel ist bewegter als in London oder irgend sonst wo“ (13. Okt. 1884; Friedrich Engelhorn-Archiv S1/37). „Mit Weightman [Powers & Weightman – Chininhändler in Chicago] war nichts zu machen… Wir müssen eben fortfahren ihm als Conkurrenten entgegenzutreten… ich versuche, mit größeren Drogisten im Westen Contracte abzuschließen und zwar so, dass die Leute dabei ihren Vorteil sehen. Wir haben vielleicht für den Anfang einige Opfer zu bringen, die aber nicht verfehlen werden, nur gute Dienste zu leisten“ (16. Okt. 1884, ebd.). „Ich kann Dich versichern, dass die Verhältnisse hier nur sehr compliziert sind und wir einem harten Kampf entgegen gehen“ (7. Nov. 1884, ebd.)
Schließlich konnte das Unternehmen die „Chinin-Krise“ durchstehen, nicht zuletzt, weil es auch viele andere Produkte verkaufen konnte. Hier zeigt sich B.s Einstellung, die er noch im Sommer 1884 formulierte, bestätigt: „Ich bin der Ansicht, dass wir am besten über die Calamität wegkommen, wenn wir suchen, flott in Betrieb zu bleiben und alle Orders annehmen, welche noch etwas Verdienst übrig lassen“ (Brief an Engelhorn, 15. Aug. 1884, ebd.).
Tatsächlich konnte die Firma in Waldhof mehrere neue Produkte herstellen, wie Tannin, Glyzerin, „Carbolsäure“ (Phenol). Besonders wichtig war es, dass bereits ab 1882 mit der Herstellung anderer Alkaloiden als Chinin begonnen worden war, wie Codein, Strychnin, Coffein, Atropin, später noch viel mehr.
„Was die Fabrik an neuen Erzeugnissen zur Verfügung stellte, führte eine gute kaufmännische Organisation unter B.s geschickten Leitung einem erfreulichen Absatze“ (C. F. B. & Söhne…[1934], 9).
Wie auch seine Eltern blieb B. „Ausländer“ – Angehöriger des Königsreichs Württemberg. Zum Anfang 1889 erhielt er jedoch die badische Staatsangehörigkeit, wahrscheinlich, weil er in Mannheim zu heiraten vorhatte. Im Sommer 1889 verheiratete sich B. mit einer jüngeren Schwester der Frau von Fritz Engelhorn – beide waren Töchter des Mannheimer Großkaufmanns Kommerzienrats Carl Jörger (1837-1895). Damit wurde B. nicht nur Kompagnon, sondern auch Schwager Engelhorns, und die Verbundenheit zwischen beiden wurde noch stärker. Die erfolgreiche Zusammenarbeit dauerte danach nur noch drei Jahre: B. starb unerwartet 32-jährig während einer Italienreise an Lungenentzündung, nicht an Fischvergiftung, wie das Geschlechterbuch berichtet. (Friedrich-Engelhorn-Archiv S 11/11).„In ihm verlor die Firma einen wegen seiner temperamentvollen Frische und seines frohes Wesens überall beliebten Chef“ (C. F. B. & Söhne…[1934], 9).
Das kurze Leben B.s schließt die Geschichte des Mannheimer Zweigs des Unternehmergeschlechts B. ab. Seitdem gehörte die Mannheimer Firma „Boehringer“ der Familie Engelhorn, bis sie 1997 durch den schweizerischen Konzern „Roche“ übernommen wurde.
Q StadtA Mannheim: Familienbögen (Boehringer Christoph u. Boehringer Ernst); Bestand Tulla-Gymnasium, Zug. 68/1993, Nr. 4, Nr. 5, Nr. 14; Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Signatur: Aha 762: Fritz Kaufmann; Familie Boehringer: Stammbaum u. Geschichte. (Maschinenschrift), 1921 (ohne Paginierung); Friedrich Engelhorn-Archiv, Mannheim: S 1/37, Geschäftliche Korrespondenz zwischen B. u.Fr. Engelhorn; S 1/38, Gesellschaftsvertrag zwischen B. u. Fr. Engelhorn und Ernst Boehringer; S 1/87, Korrespondenz u. einige Dokumente von B. ; S 1/86, Kondolenzschreiben von Geschäftspartnern anlässlich des Todes von B.; S 11/11 u. S 11/12, Unterlagen aus dem Nachlass von Egon Dietz, ehem. Firmenarchivar von Boehringer Mannheim; Institut für Personengeschichte, Bensheim: Akten: B.. Auskünfte aus dem UA Stuttgart vom 11.08., aus dem StA Ludwigsburg vom 31.08.2015 u. aus dem UA Darmstadt vom 16.09. 2015.
L DBE, 2. Aufl., Bd. 1, 2005, 780; C. F. Boehringer & Söhne, Mannheim-Waldhof, 1859-1909, [1909]; C. F. Boehringer & Söhne G. m. b. H., Mannheim-Waldhof (gegründet 1859), [1934]; Denkschrift d. C. F. Boehringer & Söhne, G. m. b. H Mannheim-Waldhof anlässlich ihres 75jährigen Bestehens 1859-1934, [1934]; Ernst Peter Fischer, Wissenschaft für den Markt: Die Geschichte des forschenden Unternehmens Boehringer Mannheim, 1991; Mit Menschen für Menschen: Aus d. Geschichte des forschenden Pharmaunternehmens Boehringer Ingelheim, 2010.
B Denkschrift [1934], S. 6; Deutsches Geschlechterbuch, 146, 1968, zwischen S. 88 u. 89;
Mit Menschen für Menschen, 2010, 24,.