Becke-GoehringMargot Lina Klara, geb. Goehring, Chemikerin

*14.06.1914. Allenstein, Ostpreußen (heute Olcztyn, Polen). ev.  + 14.11.2009 Heidelberg.

Albert Goehring, Offizier, nach dem I. Weltkrieg Beamter in Gera

M  Martha, geb. Schramm (1887-1976).

G  keine

 9.03.1957 Heidelberg Friedrich Becke (1910-1972), Dr., Industriechemiker.

K  keine.

1921 IV - 1933 III                   Schulbildung: bis 1925 IV - Grundschule und bis 1927 V -  humanistisches Gymnasium in Gera, dann bis zum Abitur die Königin-Luise-Schule in Erfurt

                                               

1933 IV - 1938 XII                 Studium Chemie an d. Univ. Halle u. im SS 1934 

                                                Univ. München; 2. Verbandsexamen 4.11.1936,

                                                danach Doktorarbeit.

1937 IX - 1941 VII                 Wissenschaftliche Hilfskraft, dann bis Juni 1945 - wissenschaftliche Assistentin am Chemischen Institut d. Univ. Halle

1938 XII 21                             Promotion summa cum laude zum Dr. rer. nat.; Diss."Die Kinetik d. Dithionsäurespaltung"

1944 I 25                                Habilitation für Chemie; H.-schrift: "Über die Sulfoxylsäure"; Probevorlesung "Zur Systematik d. Übergangselemente"

1944 IV 21                              Dozentin für Chemie; Antrittsvorlesung: "Das Gesetz von den konstanten u. multiplen Proportionen u. die Grenzen seiner Gültigkeit"

1946 I - 1947 XII                    Wissenschaftliche Assistentin am Chemischen Institut d. Univ. Heidelberg

1948 I - 1959 IV                     Planmäßiger a.o. Professor: bis Okt. 1952 für Analytische Chemie, danach - für Anorganische u. Analytische Chemie; ab Apr. 1959 Persönlicher Ordinarius

1961 IX - 1962 VIII                Dekan d. Naturwiss.-math. Fakultät

1963 IV - 1969 II                    o. Professor am Anorganisch-Chemischen Institut

1966 VIII - 1968 VII               Rektor

1969 IV - 1979 VII                 Direktor des Gmelin-Instituts für Anorganische Chemie u. Grenzgebiete d. Max-Planck-Ges., Frankfurt/M

1970 I - 1972 XII                    Mitglied des Wissenschaftsrats, Bonn

1973 VI -1976 VI                    Vorsitzende des Wissenschaftliches Rats d. Max-Planck-Ges.

1983 V - 1986 V                    Sekretär d. Heidelberger Akademie d. Wissenschaften

Ehrungen: Alfred-Stock-Gedächtnispreis d. Gesellschaft Deutscher Chemiker (1961, IX); Mitglied d. Deutscher Akademie Leopoldina, Halle (1969, III), d. Heidelberger Akad. d. Wiss. (1977, V), Dr. rer. nat. h.c. Universität Stuttgart (1974, V)

 B. ist, so die Presse, als einzigartige Rekordhalterin bekannt: Sie war der erste weibliche Dekan in der Geschichte der Universität Heidelberg, der erste weibliche Rektor einer Hochschule in der Bundesrepublik Deutschland, sowie das erste weibliche Mitglied von zwei wissenschaftlichen Akademien. Tatsächlich verbleibt sie in der Geschichte der Naturwissenschaft als hervorragende Chemikerin, die einen neuen Bereich der anorganischen Chemie erschloss und außerdem bedeutend zum Informationswesen in der Chemie beitrug, indem sie zehn Jahre lang das Gmelin-Institut für anorganische Chemie leitete.

B. wurde als einziges Kind des Berufsoffiziers Albert Goehring eben vor dem Ersten Weltkrieg geboren. 1919 musste die Familie ihr Haus in Ostpreußen für immer verlassen und wohnte nun in Weimar bei Verwanden der Mutter. Der Vater verzichtete, nach seinen Kriegserfahrungen, auf sein Verbleiben bei der Reichswehr und suchte für sich einen zivilen Dienst, nämlich beim Versorgungsamt in Gera. So übersiedelte die Familie dorthin. In Gera besuchte B. eine Volksschule, dann das humanistische Gymnasium Ruthenäum. Eine schwere Erkrankung des Vaters bedingte seine frühzeitige Pensionierung, und die Familie ließ sich 1927 in der  Heimatstadt der Eltern, Erfurt, nieder. Im Unterschied zu Gera gab es in Erfurt für Mädchen nur die sog. Königin-Luise-Schule, wo auch eine realgymnasiale Abteilung eingerichtet war. B. konnte, dank ihrer guten Vorkenntnisse und ihres Arbeitsfleißes eine Klasse überspringen und die Schule Ostern 1933 mit Abitur beenden.

Die letzten Jahre in der Schule waren für B. nicht sehr leicht, weil sie, obwohl eine gute Schülerin, eher als eine Außenseiterin galt. Teilweise bedingte die traditionelle Einstellung, dass nur die humanistisch, nicht naturwissenschaftlich begabten Schüler eines Ansehens würdig seien, hauptsächlich war aber die Politik der Grund: Dank des starken Einflusses ihres Vaters schloss sich B. - im Gegensatz zu allen anderen Mitschülerinnen - den nationalsozialistischen Organisationen nicht an.

Ihr Mathematiklehrer erschloss ihr "in fast privaten Gesprächen die Schönheit der Kristallstrukturen" (B., 1983, 18), so dass ihr Interesse wuchs, zu erfahren, "was die Welt im Innersten zusammenhält" (B., 1978, 44). Sie besorgte sich einschlägige Bücher und begann im Badezimmer zu experimentieren - "nicht immer zur Freude meiner Eltern" (in: J. Eberhardt, 1984). Der Schule hinterließ sie eine gute Sammlung selbst hergestellter Kristallmodelle und war entschlossen, Chemie zu studieren.

Trotz schwerer Bedenken der Eltern - es galt damals einfach als absurd, dass eine Frau Chemie studieren könne, umso mehr, als sie kaum mit Berufschancen rechnen könnte -  beharrte B. darauf, sich an der Universität Halle zu immatrikulieren.

Nach dem Tod des Vaters wurde es finanziell eng, aber die Mutter, "eine gebildete praktische Frau", war bereit, nach Halle zu gehen, um ihrer Tochter sich durchschlagen zu helfen.

Während ihrer Studienjahre wurden B. "eine große Stoffkenntnis", "viel handwerkliches Geschick" und "viel Initiative" beim Experimentieren vermittelt (B., 1994, 245). Ende 1936 bestand B. das 2. Verbandsexamen bei dem eben nach Halle gekommenen Karl Ziegler (s. dort). Ihre bedeutendsten Lehrer waren Anorganiker, die beiden damals noch Privat-Dozenten Rudolf Scholder (1896-1973) und Helmuth Stamm (1901-1977) - ersterer dank seiner "prachtvollen Vorlesungen" (B., 1983, 29), die sie später als Vorbild für sich nahm; der zweite, ihr Doktorvater, ein "großartiger Experimentator" (ebd.), der ihr Gründlichkeit und strenge Selbstkritik einprägte. Bereits 1937 beteiligte sich  B. an analytisch-chemischen Untersuchungen Stamms und führte gleichzeitig ihre Doktorarbeit durch. Ende 1938 wurde sie summa cum laude promoviert.

Nach der Promotion war B. teilweise weiterhin als Mitarbeiterin von Stamm tätig, teilweise begann sie mit selbständigen wissenschaftlichen Arbeiten: Sie strebte an, die kaum untersuchten  Schwefel-Stickstoff-Verbindungen zu erforschen. Viele Vorarbeiten erschienen dafür notwendig.  Als Gast konnte B. während der Ferienzeit an anderen Hochschulen dazu arbeiten, insbesondere am Institut für physikalische Chemie der Universität Freiburg. Im Januar 1944 konnte sie sich mit einer ihrer Vorarbeiten - über niedere Sauerstoffsäuren des Schwefels - mit Unterstützung von K. Ziegler habilitieren.

Gleichzeitig war B. von 1937 als Unterrichtsassistentin bei Ziegler und Stamm tätig. Da sie keiner NS-Organisationen angehörte, musste sie sich bis 1941 mit einer Hilfsassistentenstelle begnügen. Im November 1942 veranlasste Ziegler, B. solle anorganisch- und analytisch-chemische Spezialvorlesungen halten. Im April 1944 wurde sie zur Dozentin ernannt, jedoch, aus politischen Gründen, "nur ausnahmeweise und nur auf Kriegszeit" (B., 1983, 46).

Der Krieg kam aber nach einem Jahr zum Ende. Die amerikanischen Militärbehörden schlossen die Universität und Ende Juni evakuierten sie zwangsweise viele Dozenten, u.a. B. in die amerikanische Zone. B. und ihre Mutter, mit nur wenigen Habseligkeiten, die sie tragen konnten, wurden nach Gundernhausen bei Darmstadt gebracht. Von dort begann B. Kontakte mit Chemikern in der Region zu suchen. Im August gelang es ihr, sich dem Heidelberger Ordinarius für Chemie Karl Freudenberg (s. dort) vorzustellen. Dieser brauchte dringend fähige Leute für seinen Lehrstuhl an der wiederzueröffnenden Universität und konnte sie zunächst als Assistentin für die Studienanfänger ab Januar 1946 anstellen. Im Nachhinein befragte er Ziegler über dessen ehemalige Mitarbeiterin. Ziegler antwortete, dass er sie "in jeder Weise empfehlen" könne. "Sie ist eine selten kluge Dame, und ich habe sie sehr gern und mit besten Erfolg in Halle im anorganischen Unterricht eingesetzt und auch ihre Habilitation, die sie sehr verdiente, nach Kräften gefördert" (UA Heidelberg, Rep. 14-803).

Ihr Leben in Heidelberg war zunächst hart, hungrig und arm - aber glücklich. "Was habe ich damals gearbeitet! ... Es war eine großartige Zeit voller Anstrengung, voller Leben" (B., 2005, 84). Zum Ende ihrer Arbeit in Heidelberg schrieb B.: "Ich bin besonders stolz darauf, dass ich an diesem Wiederaufbau tätigen Anteil haben durfte" (UA Heidelberg, PA 7512, Brief B. ans Ministerium vom 7.01.1969).

B. las über "Qualitative Analyse", "Komplexchemie", "Spezielle Kapitel der anorganischen und analytischen Chemie", über "Theoretische Grundlagen der quantitativen Analyse", führte auch gasanalytisches Praktikum und weitere durch. Als Freudenberg im Februar 1946 wegen einer Denunziation suspendiert wurde, wurde B. mit der Hauptvorlesung (Experimentalchemie I - Anorganische Chemie) beauftragt. Später, ab 1954, las sie dies als Professorin. Ihre begeisternden Vorlesungen waren sehr beliebt und gut besucht.

Allmählich stabilisierten sich die allgemeinen Verhältnisse. B. konnte sich bald auch ihren Forschungen zuwenden. "Die gemeinsame Arbeit führte damals die 'Chefin' und ihre Doktoranden zusammen. Es resultierten neue Wege zu neuen Stoffen" (B., 1983, 63). Während der ersten 10 Jahre wurden 53 Aufsätze von B., z. T. mit ihren Schülern, publiziert, gekrönt mit ihrer für die Weltliteratur ersten Monographie "Ergebnisse und Probleme der Chemie der Schwefelstickstoffverbindungen". B. erhält internationale Anerkennung, was sich in mehreren Einladungen für Vorträge und Handbuchbeiträge aus dem Ausland zeigt. Ihre Arbeiten schienen zunächst auf Nebengleisen der Chemie-Entwicklung zu fahren. Sie führten jedoch zum Entstehen eines neuen Kapitels der Anorganischen Chemie, indem mehrere neue Klassen der Verbindungen von Schwefel, Stickstoff, Phosphor und anderen Nichtmetallen entdeckt wurden. Anstatt weniger zerstreuter Tatsachen am Rande des chemischen Wissens entstand nun ein florierendes Gebiet der Chemie, dessen Bedeutung allgemein verstanden wurde, nachdem ein polymeres Schwefelnitrid sich als erster nichtmetallischer Supraleiter entpuppte.

 Als nach der Teilung des Chemischen Instituts (1959) in zwei Institute - für Anorganische und für Organische Chemie - der neue Lehrstuhl für Anorganische Chemie eingerichtet wurde, sprachen für B. alle Gründe, diesen Lehrstuhl zu bekommen. So wurde es für sie zur großen Enttäuschung, dass die Fakultät dem Brauch folgte, die vakanten Ordinariate nie einheimischen Kandidaten zu übergeben. Als eine Kompensation beantragte die Fakultät im Februar 1959 einstimmig den Titel und Recht eines persönlichen Ordinarius für B..Die Ernennung fand alsbald statt.

 Ab SS 1950 wurde B. Mitglied, nach einem Jahr Vorsitzende der Stipendienkommission. Sie hatte diese Position bis 1959 inne, und ihren energischen Bemühungen ist es zu danken, dass vielen jungen Menschen über harte Studienjahre hinweg geholfen werden konnte. 1958 wurde sog. Honnefer Modell angewendet. Initiativen B.s trugen bedeutend zur Einführung des BAFöGs (ab 1971) bei. Ab 1959 wirkte B. als Mitglied (Senatsbeauftragte) des Verwaltungsrats der "Studentenhilfe Heidelberg e. V." Ihr aktiver Einsatz für allgemeine Universitätsangelegenheiten und ihr geschicktes Handeln insbesondere bei harten Besprechungen mit Stadtbehörden, die den Bau von Studentenheimen zu verweigern suchten, verschafften B. ein solches Ansehen an der Universität, dass der große Senat sie im Februar 1966 zum Rektor für die Amtsperiode 1966/67 wählte. Später betonte B. den Mut der Kollegen, die von der jahrhundertealten Tradition abgewichen waren: B. wurde die erste weibliche Magnifizenz in der BRD. Sie nahm diese Herausforderung kühn an. Als "Rector Designatus" (designierter Rektor) wurde sie Mitglied des engeren Senats und arbeitete sich so allmählich in ihr Amt ein. Sie sah zwei große Probleme für ihre Tätigkeit - die schlechte Finanzlage der Universität und die dringende Notwendigkeit der Reformen wegen der enormen Zahl der Studenten (mehr als 11 000 im SS 1966), der die Struktur der Universität und des Lehrkörpers nicht mehr entsprach.

Das erste Problem konnte B. erfolgreich angehen: Zunächst berief sie eine spektakuläre Presskonferenz, wo sie, zusammen mit den Dekanen, katastrophalen Raumnot der Universität der Öffentlichkeit darstellte. Danach folgten heftige Auseinandersetzungen mit dem Finanzminister, wobei sie erreichte, dass sie Mittel, insbesondere für die Ausbesserung der im Notstand befindlichen Kliniken erstmals erhielt. Das Ergebnis war, dass der ganze Senat zusammenrückte, den Rektor unterstützte und B. für ein zweites Amtsjahr wählte. Sie setzte sich weiter für die Verbesserung der Finanzlage ein, aber nun trat in den Vordergrund die Universitätsreform, für die es reichlich spät war: Die Studentenunruhen rollten weltweit an, in Heidelberg ab Juni 1967.

Veranlasst durch die Verschärfung der Situation wegen eines Studentenstreiks und der Besetzung des Gebäudes der Neuen Universität suspendierte B. den AStA bis zur Unterlassung der rechtswidrigen Maßnahmen und erreichte, dass der Vorlesungsbetrieb weiter gehen konnte. "Man konnte sich damals noch durchsetzen, wenn man nur ein wenig Mut hatte. Man konnte ohne Polizei für den Rechtsstaat eintreten" (B. 2005, 144). Vierzig Jahre später bestätigte B. in einem Interview, dass sie auch heute so handeln würde. Viele Einzelheiten sind in ihrem Jahresbericht und insbesondere in damaligen Heidelberger Zeitungen widergespiegelt. "Die Tätigkeit in diesem Amt hat einen wohl kaum richtig vorstellbaren physischen und psychischen Einsatz gefordert", schrieb B. (UA Heidelberg, PA 7512, Brief an das Kultusministerium vom 7.01.1969).

 Die Bemühungen B.s, die autonome Universität und eine Gemeinschaft von Lehrkörper und Studenten zu retten, scheiterten. Später gab sie eine inhaltsreiche Analyse und interessante Zeugnisse über die damaligen Ereignisse an der Universität (B., 1983, 78-104) und noch später resümierte sie bitter: "Die autonome Universität starb. Die Universität geriet unter die Herrschaft des staatlichen Beamtenapparates"  (B., 2005, 138). Sie wollte nicht in dieser Richtung mitmachen und schied freiwillig aus ihrem Prorektor-Amt. Eben in dieser kritischen Zeit eröffnete sich ihr die unerwartete Möglichkeit, die Stelle eines Institutsdirektors bei der Max-Planck-Gesellschaft zu übernehmen, nämlich, des Gmelin-Instituts für Anorganische Chemie in Frankfurt: Den Ruf hatte sie seit September 1968, nahm ihn aber erst im Januar 1969 an.

 Nach ihrem Übergang in die Max-Planck-Gesellschaft fühlte sich B. zunächst mit der Ruperto Carola noch verbunden, umso mehr, als nach dem Antrag der Fakultät der Kultusminister ihr im Mai 1969 Titel und Recht eines persönlichen Ordinarius verlieh und sie noch Doktoranden in Heidelberg hatte. Anfang 1970 veränderten sich jedoch die Verhältnisse.

 Noch im Mai 1969 publizierte "Der Spiegel" die Mitteilung "Deutsche Wissenschaftler forschen für Pentagon". Angeblich habe auch die Universität Heidelberg einen Forschungsauftrag für "Untersuchung von Schwefel-Phosphor-Stickstoff-Polymeren". B. veröffentlichte sofort ihre Erklärung, dass es sich um Unterstützung ihrer seit 1940 begonnenen Grundlagenforschung von Seiten des "European Office of Aerospace Research" in Brüssel handele ohne jegliche Verpflichtungen außer der, von zu veröffentlichenden Ergebnissen einen Kurzbericht in Englisch zu geben; die Forschungsmittel wurden unter "Beiträge Dritter", wie üblich, vereinnahmt und für Forschungsarbeiten benutzt. Damit hätte die Sache erledigt sein können. Eine radikale Gruppe von Studenten der Fachschaft, Anhänger der "Kulturrevolution" in China und Kämpfer gegen "US-Imperialismus", bestrebte aber, den "Fall Becke" hochzuspielen - und nicht ohne Erfolg. In mehreren Artikeln behaupteten sie, B. habe für die amerikanische Luftwaffe geforscht. Trotz der Erwiderungen in der Presse ehemaliger Schüler und Kollegen, die diese Anklagen als "böswilligen Angriff" auf die Person B. zurückwiesen, wollte der damalige Rektor bei den radikalen Studenten sich einschmeicheln und berief eine Senatskommission, der B. noch zustimmte, und später noch eine weitere, um die Sache zu untersuchen. Nun aber lehnte B. ihre Teilnahme ab und richtete an den Rektor einen Brief, den sie auch der Rhein-Neckar-Zeitung übergab. Dort stellte sie die Sache kurz dar und fragte empört: "Sind Sie sicher, Magnifizenz, dass Sie mit dieser Handlung Ihren Pflichten als Rektor korrekt nachkommen?" (B., 1970, Brief).  Als ihr letzter Doktorand promovierte, erklärte B., dass sie von ihren akademischen Rechten "keinen Gebrauch mehr machen möchte" (UA Heidelberg, PA 7512, Brief an den Dekan vom 4.05.1972).

Dieses Schreiben wurde im Ministerium nicht weiter bearbeitet. B. selbst beharrte auch nicht mehr darauf und, motiviert durch ehemalige Schüler, beteiligte sie sich als Mitglied der Universitätskörperschaft an der Vorbereitung der Jubiläumsausgabe zum 600jährigen Bestehen der Ruperto Carola. Wie sie später schrieb: "Die Universität Heidelberg war und ist meine große Liebe" (UA Heidelberg, PA 7512, Brief an den Rektor vom 3.07.1984).

 Ab April 1969 wirkte B. als Direktor des Gmelin-Instituts. Dies war eine seit 1948 der Max-Planck-Gesellschaft zugeordnete einmalige Organisation zum Sammeln und Bearbeiten aller Informationen aus dem Gesamtgebiet der Anorganischen Chemie, die das Institut in den Bänden eines großen Handbuchs vereinigte und herausgab. Um das Institut für die zeitgemäßen Aufgaben zu befähigen, führte B. eine Änderung der Struktur des Instituts durch, indem Arbeitsgruppen unter kompetenten Leitern eingerichtet wurden. Das hemmende "Bogensollsystem" wurde abgeschafft und die Wissenschaftler wurden zur Arbeit motiviert, weil sie zu erreichende Ziele sahen und Freiheit für ihre Arbeit bekamen. Unter der Leitung B.s veröffentlichte das Institut 1969-1979 mehr als 180 Bände des einmaligen "Gmelin-Handbuchs der Anorganischen Chemie" und dazu noch 12 Bände eines Formelregisters.

Mit 65 Jahren ging B. in den Ruhestand, wohnte in ihrem Haus in Heidelberg und widmete sich hauptsächlich der Geschichte ihrer Wissenschaft. 1998 gründete sie die "Margot-und-Friedrich-Becke-Stiftung", deren Ziel die Überwindung der Kommunikationshemmnisse zwischen den "zwei Kulturen" der Geistes- und Naturwissenschaften ist. Dafür veranstaltete sie seit 1999 regelmäßig Vortrags- und Diskussionsabende mit Wissenschaftlern verschiedener Fächer und Gebiete.

B. war fast bis ihrem Lebensende tätig und verschied im Alter von 95 Jahren.

 Im beruflichen Leben B.s sind deutlich drei Perioden zu unterscheiden: Ihr Werdegang in Halle, zwanzig Jahre der aktivsten wissenschaftlichen und unterrichtlichen Arbeit am Chemischen Institut in Heidelberg und nach ihrer Wahl zum Rektor - die Periode der hauptsächlich organisatorischen Tätigkeit. Die ersten zwei Jahrzehnte in Heidelberg waren die fruchtbarsten für B. als Chemikerin.  In diese Zeit fallen ca. 130 von ihren insgesamt 215 Publikationen. Obwohl sie auch später ihre Doktoranden betreute und inhaltsreiche Übersichtsaufsätze verfasste, war ihr Lebenswerk schon abgerundet. Aber auch bei ihrer organisatorischen Arbeit, insbesondere am Gmelin-Institut, fühlte sie sich oft als Experimentatorin. Sie selbst bezeichnete sich nicht nur einmal als Homo ludens. (Der Begriff, wörtlich "der spielende Mensch", ist durch das gleichnamige Buch (1938) des holländischen Kulturhistorikers Johan Huizinga (1872-1945) eingeführt, der Spiel als Ursprungsquelle der Kultur betrachtete.) Die "Freude am experimentellen Spiel" (B., 1978, 44) begleitete B. durchs Leben.

Q UA Heidelberg: PA 2586, PA 7512, HAW 67 (Akten B.), Rep. 14-593, Rep. 14-803 (Briefe über B.); H-V-69/2, H-V-111, H-V-116, H-V-226 (Akten d. Naturwiss.-math. Fak.), B II-56a (Studentenhilfe e.V.), B II-52f (Anorganisch-chemisches Institut), B II-103e4 (Lehrstuhl für anorganische u. analytische Chemie); Bibliothek der Chemischen Institute d. Univ. Heidelberg: A Reihe, Arb Chem Inst 1947-1970 (Sammlung d Sonderdrucke B.);  StadtA Heidelberg, ZGS 2/8 (Sammlung von Materialien über B.); Auskunft aus dem UA Halle vom 27.08.2012.

 W  (mit H. Stamm) Ein neues Verfahren zur oxydimetrischen Bestimmung von Wismut, in: Zs für analytische Chemie 115, 1939, 1-8; (mit H. Stamm) Die Kinetik d. Dithionsäurespaltung, I, II, III, in: Zs. für physikalische Chemie, A, 183, 1939, 89-111, 112-120, 241-249; (mit H. Stamm) Zum Mechanismus d. Bildung von Polythionsäuren, in: Die Naturwissenschaften 27, 1939, 317f.;  (mit H. Stamm) D. Aufbau d. Polythionsäuren mit Hilfe von thioschwefliger Säure, in: Zs. für anorganische u. allgemeine Chemie 242, 1939, 413-426; (mit A. Faessler) Chemische Bindung u. K-Röntgenemissionsspektrum beim Schwefel, in: Die Naturwissenschaften 31, 1943, 567f.;  Über zwei isomere Formen d. Sulfoxylsäure, ebd. 32, 1944, 42; Kurze Anleitung zur qualitativen Analyse [Neubearbeitung von Ludwig Medicus' "Einleitung in die chemische Analyse" Bd. 1],  241946,  251950 ,261952,  271955,  28(mit J. Weiss) 1961; Ein Verfahren zur Bestimmung von Sulfoxylat, Bisulfit, Thiosulfat u. von Polythionat nebeneinander, in: Zs. für analytische Chemie 128, 1947, 6-9;  (mit W. Helbing u. I. Appel) Die spontane Zersetzung von Polythionatlösungen, in: Zs. für anorganische Chemie 254, 1947, 185-200; Über den Schwefelstickstoff N4S4, in: Chemische Berichte 80, 1947, 110-122; (mit H. Stamm) Einige neuere Ergebnisse d. Schwefel-Chemie, in: Angewandte Chemie 60, 1948, 147-155; Die Erscheinungsformen d. chemischen Bindung, in: Aus Leben u. Forschung d. Universität 1947/48, Schriften d. Univ. Heidelberg, H. 4, 1950, 214-224; Die Chemie d. Polythionsäuren, in: Fortschritte d. chemischen Forschung, 2, 1952, 444-483; (mit A. Faessler) Röntgenspektrum u. Bindungszustand. Die Kα-Fluoreszenzstrahlung des Schwefels, in: Die Naturwissenschaften 39, 1952, 169-177; (mit H. Hohenschutz) Heptaschwefelamidosulfonsäure, ebd., 40, 1953, 291f.; (mit D. Voigt) Über die Schwefelnitride (SN)2 u. (SN)Z, ebd., 482; Ergebnisse u. Probleme d. Chemie d. Schwefelstickstoffverbindungen, 1957; Sechsgliedrige u. achtgliedrige Ringsysteme in d. Schwefel-Chemie, in: Angewandte Chemie 73, 1961, 589-597; (mit E. Fluck) Einführung in die Theorie d. quantitativen Analyse, 1961, 21965, 31968, 41972, 51977, 61980, 71990; Polymeric Sulphur and Phosphorus Compounds, in: M. F. Lappert, G. J. Leigh (Eds.), Developments in inorganic polymer chemistry, 1962; (mit E. Fluck) Developments in the inorganic chemistry of compounds containing the sulphur-nitrogen bond, in: Ch. B. Colburn (Ed.), Developments in inorganic nitrogen chemistry, Vol. 1, 1966, 150-240; D. weite Weg zum Verständnis d. chemischen Bindung (Rektoratsrede am 22. Nov. 1966), in: Heidelberger Jahrbücher 11, 1967, 1-17; Ansprache zum Gedenken Richard Kuhn, in: Mitteilungen aus d. Max-Planck-Ges. 1967, Sonderheft, 3-6; Ansprache des Rektors bei d. Immatrikulationsfeier d. Univ. Heidelberg am 22. Mai 1967, in: Ruperto Carola 41, 1967, 356-358; Jahresbericht des Rektors über das Amtsjahr 1966/67, ebd., 42, 1967, 270-280; Ansprache bei d. Gedenkfeier für Kurt Schneider 28. Jan. 1968, ebd., 43/44, 1968, 195f.; Jahresbericht über das Rektoratsjahr 1967/1968, ebd. 45, 1968, 232-298; Marie Curie, in: Universitas 23, 1968, 367-372; (mit K. Erhardt) Über eine Art Cluster-Molekül d. Schwefel-Stickstoff-Chemie, in: Die Naturwissenschaften 56, 1969, 415; Stellungnahme zu dem Spiegel-Artikel vom 19. Mai 1969, in: Rhein-Neckar-Zeitung, 22.05.1969, Nr. 116, S. 3, Heidelberger Tageblatt 22.05.1969, Nr. 116, S. 17; u. Ruperto Carola 47, 1969, Anlage 1, S. 38; D. Brief M. B. an den Rektor d. Universität, in: Rhein-Neckar-Zeitung, 16.05.1970, Nr. 111, S. 9; (mit S. Pantel) Sechs- u. achtgliedrige Ringsysteme in d. Phosphor-Stickstoff-Chemie, 1969; (mit P. B. Hormuth) Ein neues fünfgliedriges Ringsystem mit Stickstoff, Phosphor u. Kohlenstoff im Ring, in: Zs für anorganische u. allgemeine Chemie 372, 1970, 280-284; (mit H. Schwind) Über neue viergliedrige Ringsysteme mit Stickstoff, Phosphor u. Kohlenstoff im Ring, ebd., 285-291; (mit H. Hoffmann) Komplexchemie, 1970: Aus d. Arbeit des Gmelin-Instituts für anorganische Chemie u. Grenzgebiete in d. MPG, in: Jahrbuch d. MPG, 1971, 91-103; Antrittsrede, in: Jahrbuch d. Heidelberger Akad. d. Wiss. für 1978, 44-47; Anorganische Chemie zwischen gestern u. morgen. Ein Fragment, in: Sitzungsberr. d. Heidelberger Akad. d. Wiss., Math.-naturwiss. Kl., 1979/80, 5. Abhandlung, 337-377; Rückblicke auf vergangene Tage, Privatdruck, 1983; (mit E. Fluck u.a.) Betrachtungen zur Chemie in Heidelberg, in: Semper Apertus, 1985, Bd. II, 332-359; Freunde in d. Zeit des Aufbruchs d. Chemie. D. Briefwechsel zwischen Theodor Curtius u. Carl Duisberg, in: Sitzungsberr. d. Heidelberger Akad. d. Wiss., Math.-naturwiss. Kl., 1990, 1. Abhandlung, 1-202; Anorganische Chemie zwischen gestern u. morgen - wie ich sie erlebte, in: O. M. Marx, A. Moses (Hg.) Emeriti erinnern sich, Bd. 2, 1994, 235-276; (mit M. Eucken) Arnold Eucken. Chemiker - Physiker - Hochschullehrer. Glanzvolle Wissenschaft in zerbrechender Zeit, in: Sitzungsberr. d. Heidelberger Akad. d. Wiss., Math.-naturwiss. Kl., 1995, 1. Abhandlung, 1-106; Universität Heidelberg 1946-1968. Wie ich sie erlebte, in: M. B.-G., D. Mussgnug, Erinnerungen - fast vom Winde verweht. Universität Heidelberg zwischen 1933 u. 1968, 2005, 69-149.

 L Poggendorffs Biographisch-literarisches Handwörterbuch VIIa, Teil 2, 1958, 220f., VIII, Teil 1, 1999, 281-285; Anonym, Wer ist's? M. B.-G., in: Nachrichten aus Chemie u. Technik 9, 1961, 295 (B); Ilse Tubbelsing, Portrait d. ersten Rektorin d. Ruperto Carola, in: Heidelberger Tageblatt, 26/27. 02.1966, Nr. 47, S. 20 (B);  Universität Heidelberg ist in Gefahr, ihren Ruf zu verlieren: Hilferuf d. Rektorin u. des Senats, in: Rhein-Neckar-Zeitung 14.10.1966, Nr. 238, S.7 (B); Dekan Scheffer droht mit Schließung ganzer Klinikbereiche, in: Heidelberger Tageblatt14.10.1966, Nr. 238, S. 17 (B);AStA behindert Zusammenarbeit zwischen Lehrkörper u. Studenten, in: Rhein-Neckar-Zeitung, 8.05.1968, Nr. 106, S.5; Tumultartige Szenen in d. Neuen Universität, Ebd., 30.05.1968, Nr. 124, S. 3; Fortgesetzte Amtsmißbrauch des AStA, Ebd., S.6; Heidelberger Studenten wurden handgreiflich, in: Heidelberger Tageblatt 30. 05.1968, Nr. 124, S. 4; Rektor suspendierte den Allgemeine Studentenausschuß, ebd., S. 13 (B); Zum ersten Mal ergriff Rektorin B. das Wort: "Polizei in d. Universität ist etwas schreckliches!", ebd. 31.05.1968, Nr. 125, S. 18; Solidarisierungswelle erfaßt Studenten, Rhein-Neckar-Zeitung, 31.05.1968, Nr. 125, S. 10; Professor B. begründet Rücktritt, in: Heidelberger Tageblatt 31.01.1969, Nr. 25, S. 28; K. Baldinger, Abschiedsworte für Frau Professor M. B., in: Ruperto Carola, 46, 1969, 194f. (B); G. Rienäcker u.a., Frau Professor M. B.-G. zum 60. Geburtstage, in: Zs. für anorganische u. allgemeine Chemie, 406, 1974, 129f.; E. Fluck, W. Haubold, Frau Professor M. B. zum 65 Geburtstag, in: Chemiker Zeitung 103, 1979, 235 (B);  M. B.-G. 70 Jahre, in: Ruperto Carola, H. 71, 1984, 151; Anonym, M. B.-G. 75 Jahre alt, ebd. H. 80, 1989, 129f.; Johanna Eberhardt, Im Gespräch: M. B.-G.: Auch für die erste Rektorin am Anfang ein "mieses Brot", in Stuttgarter Zeitung, 15.06.1989, Nr. 135, S. 6 (B); S. Schwarzl, S. Servaty, A. Kruse, Zum Beispiel: M. B.-G., in: Nachrichten aus d. Chemie, 50, 2002, 77f. (B); Katja Nagel, Die Provinz in Bewegung. Studentenunruhen in Heidelberg 1967-1973, 2009, 29, 43, 135, 184, 341, 370, 396, 397; D. Drüll, Heidelberger Gelehrtenlexikon 1933-1986, 2009, 99f.; A. Simon, M. B.-G.(1914-2009), in: Jahrbuch d. Heidelberger Akad. d. Wiss. für 2009, 190-193 (B); E. Fluck, M. B. (1914-2009), in: Jahresbericht d. Max-Planck-Ges., 2009, Beilage: Personalien, 18f. (B).

 B UA Heidelberg: Pos I Nr. 07063 bis 07076 (Photos von 1945 bis 2001), Pos I Nr. 00148, 00152, 07582, 07845, 07846 und zahlreiche Gruppenphotos; Acc 9103 (Zwei Photo-Alben); Ruperto Carola Nr. 3, Jan. 1951, 9; Ruperto Carola 40, 1966, 6; Ruperto Carola 42, 1967, 202, 203; Rhein-Neckar-Zeitung 30.05.1968, Nr. 124, S. 3; Ebd., 31.05.1968, Nr. 125, S. 10; Jahrbuch d. MPG, 1971, 90; Zs. für anorganische u. allgemeine Chemie 406, Juni 1974, H. 2-3, Titelbild; Bayer-Berichte, H. 36, 1976, S. 2, H. 37, 1977, Titelseite;  B., "Rückblicke..", Titelbild, S. 35, 59-62, 73, 75, 79, 83, 113, 133, 136, 141, 142 (Gruppenphotos); Nachrichten aus Chemie, Technik u. Laboratorium 27, 1979, 282; O. M. Marx, A. Moses (Hg.) Emeriti erinnern sich, Bd. 2, 1994, 236; 50 Jahre Max-Planck-Gesellschaft, 1998, Teil II, 390; Vgl. L