Schaefer, Hans, Physiologe, Sozialmediziner

*13.08..1906, Düsseldorf, rk.,+23.11.2000 Heidelberg

V  Mathias S. (1877-1939), Vermessungsrat.

 Clara, geb. Busch (1880-1964), Lehrerin.

Keine

∞ 1931 Maria Henriette (Mariette) geb. Ditgens (1904-1993), Klavierlehrerin.

 Annette, verh. Himmelsbach (* 1937), Wolfgang (*1939), Anselm (*1940)

1916 V? - 1925 III                  Besuch u. Abschluss des Realgymnasiums zu Velbert, Rheinland

1925 V - 1930 V                    Studium Medizin an den Universitäten München (SS 1925, WS 1925/26 u. WS 1927/28, SS 1928), Bonn (SS1926, WS 1926/27 u. SS 1929, WS 1929/30), Königsberg (SS 1927), Düsseldorf WS 1928/29)

1931 VII 1                               Promotion zum Dr. med. an d. Univ. Bonn; Diss.: "Über rhythmische optische Erscheinungen u. ihre individuellen Eigentümlichkeiten"

1931 -1939                             Assistent am Physiologischen Institut d. Univ. Bonn

1933 V                                    Beitritt NSDAP, Nr. 3144220

1933 XII?                                Habilitation: "Untersuchungen über Nervenaktionsstrom"; Antrittsvorlesung (1935): "Die

                                               Wahrnehmung von Raum u. Zeit"

1939 SS                                 Stellvertretender Professor für Physiologie an d. Univ. Gießen

1940 I - 1950 XII                    Vorstand d. Abteilung für Pathologie u. Therapie des Kerckhoff-Instituts in Bad Nauheim

1942 I - 1951 IV                     Direktor des Kerckhoff-Instituts

1942 VII u. XII                        Verhandlungen vor Parteigerichten gegen S. mit einer "Verwarnung" beendet

1946 V - 1948 VIII                 Entnazifizierung, Entlassung 13.05.1946, Einstufung durch Spruchkammer als "Mitläufer"  21.04.1947, Einstufung durch Berufungskammer Gießen als "Entlasteter" 30.08.1948

1949 XI                                   Ernennung zum o. Professor für Physiologie an d. Akademie für Medizinische Forschung u. Fortbildung in Gießen (die an Stelle d. Medizinischen Fakultät getreten war)

1950 XII - 1974 IX                 o. Professor d. Physiologie u. Direktor des Physiologischen Instituts (ab 1967 in 1. Physiologisches Institut umbenannt)

1954 VIII - 1955 VIII              Dekan d. Medizinischen Fakultät

1963 IV                                   Gründung d. Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin (heute ?für Sozialmedizin u. Prävention) mit S. als Präsident

1974 X                                    Emeritierung

Ehrungen (Auswahl):  Mitglied: Heidelberger Akademie d. Wissenschaften (1954), New York Academy of Sciences (1956) Akademie d. Naturwissenschaften Leopoldina, Halle (1957), Ehrenmitglied d. Deutschen Ges. für Sozialmedizin (1974); Ehrenmitglied d. Deutschen Physiologischen Ges.  (1975); Großes Bundesverdienstkreuz (1975); Dr. med. h.c. Mainz (1975)

 S. war das einzige Kind der Familie des Katasterdirektors Mathias S.. Der Dienst verlangte vom Vater mehrmals, die Wohnorte zu wechseln, bis die Familie sich endlich in Velbert niederließ. Dementsprechend verlief auch die Schulbildung S.s an mehreren Schulen: Vom 6. bis 8. Lebensjahr in der Volksschule in Monschau, dann ein Jahr Volksschule in Ürdingen, dann im Realprogymnasium ebd. und schließlich, ab 1916, im Realgymnasium zu Velbert, das S. Ostern 1925 abschloss. Als wichtigsten Lehrer, der seinen Schülern "die moralischen Gesetze" und "die Weite der Welt" eröffnete (S., 1986,18), nannte S. immer Dr. Nikolaus Ehlen (1886-1965). Dieser prägte S. auch als Katholik. "Was ich als Person, als Charakter heute bin, verdanke ich Ehlen", gab S. im Alter an (S., 1986, 21). Am Ende seiner Schulzeit wollte S. sich der Literatur widmen, aber seine Mutter riet ihm nachdrücklich die Medizin als Beruf an.

Seine Studienjahre verbrachte S. an mehreren Hochschulen, am wichtigsten erschienen die Semester in Bonn, wo er seine Vorprüfung, die Hauptprüfung und auch seine Promotion ablegte. Sein Doktorvater war der Physiologe Ulrich Ebbecke (1883-1960), ein Meister der Sinnesphysiologie und ein "Geist von ungewöhnlicher Art, von seltenem Adel" (S., 1961, 45).

Nach Ebbeckes Urteil zeichnete sich die Dissertation S.s "sowohl durch experimentellen Fleiß wie durch physiologisches Verständnis" aus und wurde mit der Note "sehr gut" bewertet (UA Bonn, MF-Prom I Nr. 69).

Nun musste S. zwischen klinischer und wissenschaftlicher Laufbahn wählen. Entscheidend wurden finanzielle Gründe: S. hatte vor, zu heiraten und eine bezahlte Stelle für ihn gab es nur im Forschungsbereich, und zwar bei Ebbecke in Bonn.

S. zeigte sich sehr selbständig in seiner Arbeit: Bald erschloss er sich ein eigenes Forschungsgebiet, nämlich die Elektrophysiologie. Er fand Kontakt zu dem Physiker Wilhelm Schmitz (1899-1973), damals Privatdozent. Zusammen konnten sie einen bedeutenden methodischen Fortschritt erreichen, nämlich, Messung von elektrischen Biosignalen mit dem Kathodenoszillographen. Dies ermöglichte Beobachtungen und Messungen von Impulsen bei schnellen Lebensprozessen praktisch ohne jede Trägheit. Aufgrund solcher Messungen stellte S. seine Habilitationsschrift bereits 1933 vor. Etwas später, 1937, machte er zusammen mit seinem Schüler Herbert Göpfert (1909-1991), der eine physikalische Ausbildung hatte, die "wichtigste Entdeckung meines Lebens" (S., 1986, 75), das sog. Endplattenpotential beim Übergang vom Nerv zum Muskel. Das war damals eine Pionierleistung der Physiologie. Bald fasste S. den Stand der sich rasch entwickelnden Elektrophysiologie in einer zweibändigen Monographie zusammen. Bereits der erste Band - "Allgemeine Elektrophysiologie" (1940) brachte S. viel Ansehen in der Fachwelt - aber nur in Deutschland: Unter den damaligen Umständen befand sich die Wissenschaft Deutschlands in Isolation. Erst in den 1950er Jahren kam S. weltweite Anerkennung.

Im Mai 1933 trat S., nach vielem Schwanken, der NSDAP bei: Der sieben Jahre älterer W. Schmitz überzeugte S., dass "man falsche Entscheidungen nur durch aktive Mitarbeit werde korrigieren können" (S., 1986, 57). Dieser Fehlschritt bereitete ihm viele Sorgen, im Dritten Reich wie auch nach dem Zusammenbruch 1945. Bereits 1934, nach dem "Röhmputsch" und der Ermordung katholischer Priester, wurde ihm klar, dass dies "der grausame Irrtum" sei (S., 1986, 181). Zurückzutreten wäre aber zu gefährlich gewesen. Trotzdem erlaubte S. sich viele kritische Anmerkungen, was mit Kriegsbeginn zu Denunziationen und zu Gerichtsverfahren führte.

Im April 1939 erhielt S. ein Angebot, im 1931 gegründeten, von  der William G. Kerckhoff-Stiftung getragenen Kerckhoff-Herzforschungsinstitut die experimentelle Abteilung zu übernehmen. Da er bereits erkannt hatte, dass seine Berufung auf einen Lehrstuhl kaum wahrscheinlich sei, folgte er diesem Angebot. Damit verschob sich der Schwerpunkt seiner Forschungen ins Gebiet der Herz- und Kreislauffunktionen.

Seit Frühjahr 1940 unternahm S. wiederholte Anläufe beim Reichsforschungsamt, um seine neuen Projekte als "kriegswichtig" darzustellen. Nach fast zweijähriger wiederholter Antragstellung wurden seine Vorschläge akzeptiert; es handelte sich insbesondere um  Klimatisierung von U-Booten sowie um Ursachenfindung des Detonationstodes. Diese Taktik ermöglichte S., als u. k. zu bleiben. Es war sein Glück, dass er nicht an Versuchen an KZ-Häftlingen teilnehmen musste. Im Alter gab S. zu, dass er nicht wisse, ob er den Mut gehabt hätte, solche Teilnahme abzulehnen, wenn man ihn gefragt hätte. (S., 1986, 108).

Der stellvertretende Direktor des Kerckhoff-Instituts und gleichzeitig Ordinarius für Physiologie in Gießen, PG Eberhard Koch (1890-1965), sah in S. den Konkurrenten und arbeitete gegen ihn. Wegen dessen Denunziationen musste S. sich zuerst vor dem Gaugericht in Frankfurt, dann vor dem Parteigericht Hessen-Nassau verteidigen. Diese Zeit bezeichnete er später als "Alptraum" (S., 1986, 110). Dass es tatsächlich ein Alptraum gewesen war, zeigen deutlich seine damaligen Briefe an den Heidelberger Physiologie-Professor Daniel Achelis (1898-1963), (UA Heidelberg K-IV-2-41/9). Obwohl er schließlich mit einer Verwarnung davon kommen konnte, blieb er unter Verdacht und musste weiter um seine Existenz kämpfen, insbesondere, indem er weiter kriegswichtige Themen ersann. Ab Juli 1944 wurde S. auch beratender Physiologe beim Oberkommando der Kriegsmarine. Dies führte zur Bekanntschaft mit Werner Osenberg (1900-1974). Im Rahmen von dessen Rückholaktion konnte S. drei seiner Mitarbeiter, u.a. Göpfert, zurück nach Bad Nauheim erhalten.

Nach dem Zusammenbruch wurde S. im Mai 1946 als Parteimitglied entlassen und durfte erst ab April 1947 seinen Posten des Institutsdirektors offiziell wieder antreten (da seine Wohnung sich im Institut befand, hatte er seinen Mitarbeitern nötige Hinweise ständig geben können).

Im Februar 1948 wurde die Max-Planck-Gesellschaft  (MPG) zur Förderung der Wissenschaften gegründet, die an Stelle der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft trat. S., als Direktor des Kerckhoff-Instituts, das zum Anschluss an die neue Gesellschaft eingeladen war, unterschrieb, mit insgesamt 49 Teilnehmern, das Gründungsprotokoll. Nun hätte S. Mitglied der MPG werden können. Diesen Weg ging er jedoch nicht. Er hatte bereits eine Professorenstelle in Gießen und einen Ruf für das Ordinariat für Physiologie in Heidelberg. Er musste wählen.

Im Sommer 1949 durfte S. einer schon 1947 erhaltenen Einladung nach Schweden folgen: Ihm wurde ein Forschungsstipendium für zwei Monate angeboten. Seinen ersten Nachkriegsaufenthalt im Ausland benutzte S. fast ausschließlich, um früher unzugängliche physiologische Literatur zu studieren. Dies trug dazu bei, dass er sich bei seiner Wahl zwischen der Laufbahn eines reinen Forschers und eines Hochschullehrers letztendlich für die zweite Möglichkeit entschied. Denn ihm wurde klar, dass seine Position an der Spitze der Physiologischen Forschung verloren war und kaum wieder zu gewinnen wäre.

Die Berufungsverhandlungen mit der Heidelberger Universität und dem Ministerium in Karlsruhe dauerten etwa ein Jahr: Man sah zunächst keine Möglichkeit, das überalterte Physiologische Institut, das sich baulich im Verfallszustand befand, umzubauen und auch Mittel für die Neueinrichtung und für Mitarbeiter zu finden. So lehnte S. im März 1950 den Ruf ab, soweit seine Bedingungen nicht erfüllt werden konnten. Er konnte ja warten, da ihm andere Möglichkeiten vorlagen - in der MPG zu bleiben und auch an das Ordinariat in Gießen zu gehen. Nach harten Auseinandersetzungen zwischen der Fakultät und dem Ministerium wurden S.s Bedingungen angenommen. Allerdings nahm S. noch bis zum Frühjahr 1951 seine Dienstgeschäfte wahr, da sein Nachfolger in Gießen und zugleich in Bad Nauheim erst im April antreten konnte. Eine Zeit lang pendelte S. zwischen Heidelberg und Bad Nauheim.

Im Frühjahr 1951 übersiedelten die S.s endgültig nach Heidelberg. S. konnte auch seine wichtigsten Mitarbeiter aus Bad Nauheim mitbringen.

Die erste Aufgabe des damals jüngsten Professors der Medizinischen Fakultät war eine Erneuerung des Physiologischen Instituts. Dank der erhaltenen Staatsmittel und mancher Zuschüsse aus der Forschungsgemeinschaft und der Industrie war es möglich, binnen zwei Jahren "aus einem alten Gebäude ein lebensfrisches modernes Institut herauszuzaubern" (S., 1952, "Ein Gang...", 78).

Der Schwerpunkt in S.s Vorlesungen lag nicht im Erklären des Lehrbuchwissens, sondern in Zusammenhängen der Physiologie mit der gesamten Medizin, ja mit der menschlichen Existenz im Allgemeinen. Dazu dienten auch seine Exkurse in verschiedene Bereiche, von sozialen Faktoren der Krankheiten bis Beziehungen der Wissenschaft zu Religion. Besonders viel Aufmerksamkeit schenkte S. allen Aspekten der psychosomatischen Erscheinungen, vor allem denen, die mit der gesellschaftlichen Lage eines Menschen verbunden sind. Diese Fragestellungen entwickelte S. dann bis zu seinem Lebensende.

Gleichzeitig konnte S. seine 1940 begonnenen Arbeiten über Elektrophysiologie des Herzens zusammenführen. Die 1951 in einer umfangreichen Monographie dargestellte Theorie des Elektrokardiogramms war wohl zu mathematisiert und zu abstrakt, um sie den Ärzten nutzbar zu machen. Aber eben dies ermöglichte es später, dass Programmierer die Verkoppelung von EKG-Geräten mit Computern  verwirklichen konnten. S.s Behauptungen, dass die "apparative Medizin" eingeschränkt sei, weil die Methoden, wie z.B. das EKG, nur teilweise oder überhaupt nicht die primären Ursachen der Krankheit enthüllen könnten, haben viele Kliniker "ziemlich auf die Palme gebracht" (S., 1986, 129). Das Problem bleibt im großen Ganzen ungelöst.

Zweifellos besaß S. eine besonders ausgeprägte Neigung zu verschiedenen gesellschaftlichen Aktivitäten: sonst wären seine gut zwei Dutzend  Vorsitz- oder Mitgliedschaften, die er in einer bunten Menge von Gesellschaften, Verbänden, Gremien und Kommissionen in verschiedenen Perioden seines Lebens bekleidete, unvorstellbar. Übrigens, wie S. im Alter bemerkte, fuhr er auf einem "Gleis..., das immer neben den wissenschaftspolitischen Mächten verlief und nie in den großen Verschiebebahnhof der offiziellen Manager einbezogen wurde" (S., 1986, 149). Deswegen konnte er "der Wissenschaftspolitik meines Landes immer kritisch gegenüberstehen. Ich habe mich nie mit ihr identifizieren müssen" (ebd.). "Leerformeln aus dem Kabinett der Ideologen" (ebd., 313) kritisierte S. immer wieder.

So beteiligte sich S. beim Wiederaufleben der Deutschen Gesellschaft für Kreislaufforschung, der er seit 1940 gehörte. 1948 wurde er deren ständiger Geschäftsführer und 1949-1951 gab er die ersten Nachkriegsbände der "Verhandlungen" der Gesellschaft heraus. Er verließ diesen Posten mit seiner Übersiedlung nach Heidelberg, blieb doch 1965-1967 im Vorstand der Gesellschaft.

Im September 1954 fand in Heidelberg die 21. Tagung der Deutschen Physiologischen Gesellschaft statt, deren Vorsitzender S. 1954-1956 war. S. hatte die Tagung vorzubereiten und zu präsidieren. In seiner gedankenreichen Eröffnungsrede plädierte S. besonders für die "menschliche Substanz" der Wissenschaft, gegen Gefahren der sich immer mehr verstärkenden positivistischen Haltung und, dementsprechend, für die Erziehung der jüngeren Generation, einer "Generation, die weiß, dass wir in aller Ordnung unserer wissenschaftlichen Ergebnisse im Begriff sind, an einer Unordnung zugrunde zu gehen, die offenbar aus einer anderer, sagen wir aus einer subcorticalen Schicht menschlicher Existenz heraussteigt" (S., 1955, 105).

Als ein weiteres Beispiel seiner kaum übersehbaren öffentlichen Tätigkeiten ist seine Mitgliedschaft im "Naturhistorisch-Medizinischen Verein zu Heidelberg" zu erwähnen. Bereits in November 1950 trug er über "Pathologische Physiologie des nervösen Herzens" vor. Ab Januar 1955 wurde er als 1. Vorsitzender des Vereins gewählt und in dieser Eigenschaft veranstaltete er die 100-Jahrfeier des Vereins im Oktober 1956, wobei er auch eine glänzende Festrede  hielt.

Als sehr wichtiges Engagement S. zeigte sich seine Zusammenarbeit mit der katholischen Kirche. Sein Anliegen war, den modernen Unglauben mit dem Christentum ins Gespräch zu bringen. Diese Aktivitäten mündeten im Juli 1958 in der Gründung der Paulus-Gesellschaft, deren Stellvertretender Vorsitzender S. 1958-1974 blieb.

Bis zum Anfang der 1950er Jahre widmeten sich alle Arbeiten S.s ausschließlich der Physiologie. Danach entwickelten sich immer neue Richtungen seiner Tätigkeit: Unter den Bedingungen des Aufbaus der kürzlich gegründeten Bundesrepublik war die Erweiterung seines Arbeitsfeldes eher natürlich, obwohl er selbst zugab, dass man ihn für seine Zersplitterung kritisierte (S. 1986, 231).

Nach seiner 3 Monate langen Studienreise in den USA, die er zusammen mit dem Internisten Rudolf Schoen (1892-1979) im Jahr 1953 machte, wurde ihnen die Notwendigkeit einer Reform des Medizinstudiums in Deutschland klar. Sie publizierten darüber zahlreiche Aufsätze, und 1956 entschloss der Medizin-Fakultätentag, dazu eine Kommission unter S.s Vorsitz zu bilden. S. erkannte bald zwei Hauptmissstände im traditionellen Hochschulsystem Deutschlands: Die Einseitigkeit der studentischen Ausbildung und das veraltete System der hierarchisch universitären Machtstrukturen. Die Vorschläge der Kommission erschienen aber den konservativ eingestellten Fakultäten zu radikal, und der nächste Fakultätentag (1958) löste die Kommission auf. Auch bei Heidelberger Fakultät, der S. "lokale" Reformvorschläge machte, fanden sie keine Resonanz. Wenn seine Bemühungen erfolgreich gewesen wären, hätte 1968 wenigstens der Medizinischen Fakultät manchen Ärger mit revoltierenden Studenten erspart.

S.s Reformpläne hatten jedoch zur Folge, dass der Landtag in Stuttgart ihn einlud, einen Entwurf über die offizielle Etablierung des Fachs Arbeitsmedizin vorzubereiten. S. gelang es, den Landtag zu überzeugen - er war ein exzellenter Rhetoriker, -  dass die Schaffung eines Fachs Sozialmedizin noch wichtiger sei, da die Arbeitsmedizin sich von selbst zu entwickeln beginne. Im Oktober 1961 gab der Landtag S. den Auftrag, Vorschläge zu unterbreiten, und dies "war die Geburtsstunde der amtlich inthronisierten deutschen Sozialmedizin" (S., 1985, 171). 1962 wurde das Institut für Sozialmedizin in Heidelberg offiziell eingerichtet.

Im Januar 1962 erhielt S. einen Ruf nach Bonn. Als es bekannt wurde, baten ihn Studenten mit einem Fackelzug zu bleiben. Bei den Bleibeverhandlungen erreichte S. die Zusage für die Errichtung eines neuen Physiologischen Instituts im Neuenheimer Feld. Dieses Institut wurde erst zur Emeritierung S.s eröffnet. Die Ablehnung des Rufs nach Bonn brachte S. einen großen Fackelzug von Seiten der Studentenschaft und den ehrenamtlichen Posten des geschäftsführenden Direktors (zunächst Mitdirektors) des Instituts für Sozialmedizin der Universität. Nun konzentrierte sich S. auf den Aufbau der neuen Disziplin. Er konnte gute Mitarbeiter anziehen, insbesondere die talentvolle und energische Maria Blohmke (*1922), die sich 1966 habilitierte - es war die erste Habilitation für Sozialmedizin in Deutschland. Später wurde sie Professorin; mit ihr unternahm S. mehrere wichtige Projekte (s. W, 1972-1982).

Als eine natürliche Entwicklung folgte der Gründung des Instituts die Gründung der "Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin e. V.", deren Präsident S. wurde. Die ersten Jahre der jungen Gesellschaft waren schwierig: Oft traf sie Unverständnis und Misstrauen, insbesondere wegen Verdacht, die Gesellschaft sei eine "linke Gruppierung" mit fragwürdigem Ziel der Sozialisierung des Gesundheitswesens. Die geduldige Erklärungsarbeit und jährliche Tagungen der Gesellschaft, wo verschiedene Aspekte und Probleme der Sozialmedizin diskutiert wurden,  brachten doch, was S. als "Wunder" bezeichnete (S., 1986, 265): Nach zehn Jahren wurde Sozialmedizin als Pflichtfach an deutschen Universitäten etabliert.

Zu seiner Emeritierung fand S. eine Aufgabe, zu einem Viertel der normalen Arbeitszeit, als wissenschaftlicher Berater bei der Berufsgenossenschaft der Feinmechanik und Elektrotechnik in Köln. Außerdem erhielt S. ein Büro und eine Hilfskraft im neuen Gebäude des Physiologischen Instituts in Neuenheimer Feld, wo er nun fast täglich literarisch arbeitete, zunächst insbesondere als Mitherausgeber und Mitverfasser des fundamentalen dreibändigen "Handbuchs der Sozialmedizin" (1975-1977), wofür etwa einhundert Mitarbeiter gewonnen wurden. Von der Sozialmedizin aus erweiterte S. sein Interessengebiet hin zu mehr philosophisch orientierten Fragen - über Krankheit und Gesundheit, über das Bild einer zukünftigen Medizin, über medizinische Ethik. Noch mehr: S. wirkte als Mitbegründer und Vorsitzender (1977-1984) der "Deutschen Liga für Kind in Familie und Gesellschaft". Denn er fand, dass eine frühzeitige Deprivation aus einem Kind mit hoher Wahrscheinlichkeit einen asozialen Mensch erzeugt.

S.s alte Neigung zur Literatur und zum Schreiben fand ihrer Niederschlag in seinem außerordentlich reichen literarischen Erbe: von ihm stammen etwa 1000 Publikationen. Charakteristisch für sie ist ein weiter, geschichtlich und philosophisch gefärbter Ansatz - nicht umsonst war S. in Heidelberg mit H. Schipperges (s. dort) befreundet.

Mit 80 Jahren publizierte S. seine hoch interessanten, obwohl nicht immer unumstrittenen "Erkenntnisse und Bekenntnisse eines Wissenschaftlers", wo sein Leben im Zusammenhang mit der Geschichte Deutschlands, mit dem Wandel der Gesellschaft, sowie der Wissenschaft in stetigen nachdenklichen Auseinandersetzungen mit dem Zeitgeschehen dargestellt ist. Seine Liebe zur Literatur stillte S., indem er in seiner Freizeit eigene künstlerische Arbeiten verfasste, sie aber nie publizierte - mit Ausnahme eines schönen Gedichtes, mit dem er seine "Erkenntnisse" beendete.

Die äußerst vielseitige Tätigkeit S. trug bedeutend zur Entwicklung der Gesundheitspolitik sowie zur Reform des Medizinstudiums und zu medizinische Aufklärung der Bevölkerung in der BRD bei.

Q UA Bonn: MF-Prom I, Nr. 69, Teil 13-14 (Promotionsakte S.); UA Heidelberg: PA 1145, PA 2961, PA 8640, PA 8641, PA 9788 (Akten S.); HAW 412 (Mitgliedsakte S.), HAW 670 (Sitzungen d. Heidelberger Akad. 1955-1959), H-III-584/1 (Professur für Physiologie); K-IV-2 -10/4, K-IV-2-41/9, H-III-650 (Akten des Physiologischen Instituts); H-III-653 (Akten des Instituts für Sozialmedizin); Auskünfte aus: UA Bonn vom 11.01.2012, UA Gießen vom 17.01.2012

 Schriftenverzeichnis 1931-1996, 943 Titel, in: V. Becker, H. Schipperges, 1997, 119-156 (Vgl.  L). Auswahl:

Über rhythmische optische Erscheinungen u. ihre individuellen Eigentümlichkeiten, in: Zs für Sinnesphysiologie 62, 1931, 1-37; (mit W. Schmitz) Ladekurve, Ladezeit u. Latenzzeit d. Aktion bei elektrischer Nervenreizung, in: Pflügers Archiv für die gesamte Physiologie 233, 1934, 229-247; (mit W. Schmitz)  Oszillographische Untersuchung d. Nervenreizung mit Kondensator- u. Induktorstößen, ebd., 700-713; Neuere Untersuchungen über den Nervenaktionsstrom, in: Ergebnisse d. Physiologie u. experimentellen Pharmakologie 63, 1934, 151-248; (mit H. Göpfert) Nervenaktionsströme bei Wechselstromreizung, ebd. 238, 1937, 404-428; (mit H. Göpfert) Über den direkt u. indirekt erregten Aktionsstrom u. die Funktion d. motorischen Endplatte, ebd., 239, 1938, 597-619; (mit P. Haass) Über einen lokalen Erregungsstrom an d. motorischen Endplatte, ebd., 242, 1939, 364-381; Elektrophysiologie, Bd. 1-2, 1940 u. 1942; Elektrophysiologische Bemerkungen zur Herzinsuffizienz, in: Verhandlungen d. Deutschen Ges. für Kreislaufforschung 16, 1950,18-23; Das Elektrokardiogramm. Theorie u. Klinik, 1951; Ein Gang durch das Physiologisches Institut d. Universität Heidelberg, in: Ruperto Carola 6, 1952, 76-78; Telepathie u. Hellsehen - im Lichte d. Wissenschaft, in: Umschau 52, 1952, 611-614; Der Einfluß seelischer Vorgänge auf den Körper in heutiger, medizinischer Sicht, in: Universitas 8, 1953, 709-714; Antrittsrede, in: Jahreshefte d. Heidelberger Akad. d. Wiss. für 1943/55 (1959), 181f.; Grundprobleme d. allgemeinen Elektrobiologie, in: Klinische Wochenschrift 31, 1953, 221-228; (mit R. Schoen) Anregungen zu einer Reform d. medizinischen Universitätsbildung, ebd., 32, 1954, 898-902; (mit R. Schoen) Probleme d. medizinischen Universitätsausbildung, in: Ärztliche Mitteilungen 39, 1954, 669-684, 712-721; Eröffnungssprache zur 21. Tagung d. Deutschen Physiologischen Gesellschaft, in: Berr. über die gesamte Physiologie u. experimentelle Pharmakologie 172, 1955, 102-106; Festrede zur Feier des 100. Gründungstages des Naturhistorisch-Medizinischen Vereins in Heidelberg, in: Verhandlungen des Naturhistorisch-Medizinischen Vereins in Heidelberg, NF, 20, H.3,1956, 1-9; Medizinische Studienreform, in: Münchener medizinische Wochenschrift 99, 1957, 613f.; Über die Begriffe d. "akademischen Freiheit" u. d. "Fachschule" bei d. medizinischen Studienreform, ebd., 674-678; The general order of excitation and of recovery, in: Annals of the New York Academy of Sciences 65, 1957, 743-767; Ulrich Ebbecke+, in: Ergebnisse der Physiologie 51, 1961, 38-51; Alt werden als medizinisches Problem, in: J. Schlemmer (Hg.), Die Kunst alt zu werden, 1962, 9-16; (mit H. Haas) Electrocardiography, in: W. F Hamilton, Ph. Dow (Eds.) Handbook of Physiology, Section 2: Circulation, vol. 1, 1962, 323-415; Die Medizin heute. Theorie. Forschung. Lehre, 1963; Einführung, in: Charles Sherrington, Körper u. Geist: D. Mensch über seine Natur, 1964, VII-XXV; Grundsätzliches zum Problem d. Soziosomatik, in: Verhandlungen d. Deutschen Ges. für Kreislaufforschung 32, 1966, 1-11; Die Kontinuität leiblicher Funktionen im Leib-Geist-Wesen Mensch, in: Mainzer Universitätsgespräche, SS 1966, 39-49; Die gesellschaftliche Prägung des Menschen, Ebd., SS 1968, 5-14; Das meßbare Wunder, in: Manfred Linz (Hg.), Nein u. Amen. Versuche mit d. Bibel, 1969, 61-70; Leib-Geist-Gesellschaft. Aspekte einer Biologie des Menschen, 1971; (mit M. Blohmke) Sozialmedizin. Einführung in die Ergebnisse u. Probleme d. Medizin-Soziologie u. Sozialmedizin, 1972, 21978; Struktur u. Funktion einer modernen Sozialmedizin, in: Heidelberger Jahrbücher 17, 1973, 190-205; Familienplanung aus sozialmedizinischer Sicht, in: Ärztliche Praxis 26, 1974, 1135-1141; (Hg. u. Mitverf.) Folgen d. Zivilisation. Therapie oder Untergang?, 1974; (mit M. Blohmke u. a., Mithg. u. Mitverf.) Handbuch d. Sozialmedizin, 3 Bde., 1975-1977; (mit M. Blohmke) Herzkrank durch psychosozialen Streß, 1977; Kind ? Familie ? Gesellschaft, 1977 (Sitzungsberr. d. Heidelberger Akad. d. Wiss., Math.-naturwiss. Kl., Jg. 1977, Abh. 1, 1-59); Plädoyer für eine neue Medizin, 1979; Funk-Kolleg Umwelt u. Gesundheit ? Aspekte einer sozialen Medizin (Hg. u. Mitverfasser), 2 Bde., 1982; Über die Wirkung elektrischer Felder auf den Menschen, 1983 (Sitzungsberr. d. Heidelberger Akad. d. Wiss., Math.-naturwiss. Kl., Jg. 1983, Abh. 3, 1-110); Brückenschläge. Zum Verständnis zwischen Schulmedizin u. außerschulischen Methoden, 1983; Medizinische Ethik, 1983, 21986; Dein Glaube hat dich gesund gemacht, 1984; (mit H.-G- Sonntag u. G. Schmidt) Von d. Physiologie zu den ökologischen Fächern, in: Semper apertus, Bd. IV, 1985, 165-181; Erkenntnisse u. Bekenntnisse eines Wissenschaftlers, 1986; 60 Jahre Physiologie, in: O. M. Marx, A. Moses (Hg), Emeriti erinnern sich, Bd. 1, 1993, 11-26; Beruf u. Krankheit, in: Das Gesundheitswesen 58, 1996, 442-446; (mit J. G. Gostomzyk) Zur frühen Geschichte d. Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin u. Prävention, ebd., Sonderheft 3, 157f.; Zukunft d. Sozialmedizin, ebd., 65, 2003, 281-283.

 L Poggendorffs Biographisch-literarisches Handwörterbuch VIIa, Teil 4, 1961, 40-42, VIII, Teil 3, 2004, 2112; Kürschners Deutscher Gelehrten-Kalender 18, 2001, 2727; A. W. Hulldorf, S., H., in: NDB 22, 2005, 505-507; D. v.  Engelhardt, S., H., in: DBE, 2. Aufl., 8, 2007, 737f. (B); Hermann Kater, Sozialpolitiker u. Ärzte: 250 Kurzbiographien u. Porträts, 1964, 115 (B); E. Kuntz, Zu H.S.s 70. Geburtstag, in: Ruperto Carola 29, H. 58/59, 1976/77, 108f.; M. Steinhausen, Prof. H. S. zum 75. Geburtstag, in: Ruperto Carola 34, H. 67/68, 1982, 246f.; H. Schipperges, J. Schlemmer, G. Wagner (Hg.), Ein wahrer Forscher wird nie alt. H. S. zum 80. Geburtstag, 1986; H. Heiber, Universität unterm Hakenkreuz, Teil 1, 1991, 293-296, 335, 568; Aspekte u. Perspektiven d. Sozialmedizin: Das Gesundheitswesen 58, 1996, Sonderheft 3; V. Becker, H. Schipperges (Hg.), Medizin im Wandel: Wissenschaftliche Festsitzung d. Heidelberger Akad. d. Wiss. zum 90. Geburtstag von H. S., 1997 (B, W); B. Lüderitz, G. Arnold (Hg.), 75 Jahre Deutsche Gesellschaft für Kardiologie, 2002, 20f., 179f. (B, S. 179); H. Seller, H. S. Nachruf, in: Jahrbuch d. Heidelberger Akad. d. Wissenschaften für 2002, 143-145 (B);  Gedenkfeier für ? H. S., in: Das Gesundheitswesen 65, 2003, 284-294; V. Roelke, S. Oehler-Klein (Hg.), Die Medizinische Fakultät d. Universität Gießen im Nationalsozialismus u. in d. Nachkriegszeit, 2007, 26, 105-109,396-400, 618 (B, S. 105); D. Drüll, Heidelberger Gelehrtenlexikon 1933-1986, 2009, 518f..

B  UA Heidelberg, Bildersammlung: Pos I 02673 bis 02677, 04000, 04323, 04516, 06299; Ruperto Carola 2, 1950, 8; ebd., Jg. 10, Bd.24, 1958, 156 (Gruppenphoto); Euromed 2, 1952, H. 21, Titelbild; O. M. Marx, A. Moses (Hg), Emeriti erinnern sich, Bd. 1, 1993, 12; Vgl. L