Kategorie: Kurzbiografien
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Hückel, Walter Karl Friedrich Bernhard,Chemiker

*18.02.1895, Berlin-Charlottenburg. Ev. + 4.01.1973. Tübingen

V Armand H. (1860-1927), Arzt, Dr. med., Dozent, ab 1894 unabhängiger Wissenschaftler.

M Maria, geb. Maier (1869-1947).

G 2: Erich Armand Arthur Joseph (1896-1980), Physiker; Rudi (1899-1949), Dr. med., Arzt

∞ 28.12.1935 (Celle) Hildegard Schimpf (1908-2003)

K 4: Dietlind (1937-1971), Burkhard (1939-1945), Ulrich (*1942), Konrad (*1944)

1901 IV – 1913 II                    Schulbildung in Göttingen: bis März 1904 – Vorschule, danach humanistisches Gymnasium

1913 III – 1920 VI                   Studium Chemie an der Univ. Göttingen

1915 XI – 1918 XI                  Kriegsdienst. E.K. II Kl.

1920 VII 7                               Promotion summa cum laude zum Dr. phil.; Diss: „Hydroaromatische 1,2-Dicarbonsäuren u. ihr Verhalten bei d. Destillation mit Essigsäureanhydrid“

1920 VIII – 1927 IX                Planmäßiger Assistent des Chemischen Instituts d. Univ. Göttingen

1923 VIII 4                              Habilitation für Fach Chemie; H.-schrift: „Die Stereoisomerie des Dekahydronaphtalins“; Probevortrag: „Die neueren Forschungsergebnisse d. Physik u. die organische Chemie“

1927 X – 1930 IV                   Planmäßiger a.o. Professor für organische Chemie an d. Univ. Freiburg/Br.

1930 V – 1935 III                    o. Professor u. Direktor des Chemischen Instituts an d. Univ. Greifswald

1935 IV – 1945 V                   Dasselbe an d. Univ. Breslau

1945 I – 1947 VI                     Aufenthalt in Göttingen, literarische Arbeit; ab Okt. 1945 –wissenschaftlicher Berater bei d. Fa Sartorius

1947 VI – 1948 IX                  Gastprofessor d. Chemie an d. Univ. Tübingen

1948 IX – 1963 III                   o. Professor (bis Febr. 1950 – a.o. Professor mit den Rechten eines o. Professors) für Pharmazeutische Chemie u. Direktor des Pharmazeutisch-chemischen Instituts an d. Univ. Tübingen; während des SS 1963 Vertretung an seinem Lehrstuhl.

1954 VI                                   Einweihung des neuen Pharmazeutisch-chemischen Instituts

1955 IV -1956 III                     Dekan d. Naturwiss.-mathematischen Fakultät

Ehrungen: Ehrendoktorate: Univ. Rennes, Frankreich (1960), Univ. Dijon, Frankreich (1965), Univ. Kiel (1965); Mitgliedschaften: Akad. d. Wiss. zu Göttingen (1939), Ges. Finnischer Chemiker, Helsinki (1949, Ehrenmitglied), Academia Scientiarum Fennica, Helsinki (1952), Heidelberger Akad. d. Wiss. (1958), Ägyptische Pharmazeutische Ges. (1959, Ehrenmitglied), Société Chimique de Belgique (1962, Ehrenmitglied), Deutsche Akad. d. Naturforscher ,,Leopoldina", Halle/Saale (1963); Auszeichnungen: Grignard-Medaille der Société Chimique de France (1934), Berzelius-Medaille, Lund/Schweden (1946), Medaille d. Königl. Akad. d. Wiss., Amsterdam (1957), Lavoisier-Medaille de Société Chimique de France (1962), Stass-Medaille de Société Chimique de Belgiue (1962), Otto-Wallach-Plakette d. Ges. Deutscher Chemiker (1966).

H. wurde als erstes Kind des Arztes und selbständigen Gelehrten Armand H. geboren. Die Familie, die sich vor Allem um eine harmonische und gesunde Entwicklung der Kinder bemühte, ließ sich 1899 in Göttingen nieder. Die drei Brüder wuchsen in einem schönen Haus mit zwei Gärten und mit Werkstatt und Laboratorium auf, die der Vater selbst eingerichtet hatte. „Außerhalb des Rahmen der Schule vermittelte mein Vater in Fortführung seiner früheren Erziehung meinen Brüdern und mir auf dem Gebiete eigentlich aller Naturwissenschaften eine umfassende theoretische und praktische Grundlage, genau wie früher nicht in einem festen Unterrichtsplan, sondern halb im Spiel“ (UA Tübingen, 311/1: Memoiren, 18). „Bereits am 20. Juli 1908 hatte ich meinem Vater erklärt, dass ich Chemiker werden wolle“ (ebd., 21)

Dafür hatte er zuvor die traditionelle Schulbildung abzuschließen. Nach drei Jahren in der privaten Vorschule, die der „ganz hervorragende Pädagoge August Heumann“ (Memoiren, 6) leitete, besuchte H. das humanistische Gymnasium. Schon damals fiel sein phänomenales Gedächtnis auf. Z. B. kannte er die vierstellige Logarithmentafel „praktisch auswendig“ (E. Hückel, 1975, 51). So bereitete ihm das Lernen im Gymnasium keine Probleme. Im Februar 1913 bestand H. das Abitur und ab SS 1913 begann sein Chemiestudium an der Universität Göttingen.

Das Göttinger Chemische Institut stand damals unter der Leitung des bedeutenden Organikers Otto Wallach (1847-1931), dem 1910 der Nobelpreis für seine Forschungen über Chemie der Terpene verliehen wurde. In seinen Memoiren erinnerte H., wie Wallach ihm persönlich eine Analyse im Praktikum gegeben hatte und wie stolz er war, als der berühmte Professor ihn für diese sehr präzis durchgeführte chemische Analyse lobte. „Diese Gewohnheit Wallachs, regelmäßig durch das gesamte Praktikum zu gehen… habe ich zum Vorbild genommen“ (Memoiren, 46). Später würdigte H. Wallach, indem er eine ausführliche und tiefblickende Biographie über ihn verfasste (1961). Schon früher in Nachfolge Wallachs führte H. seine eigenen Forschungen über Terpene, insbesondere bizyklische Terpene durch (36 Experimentalarbeiten ab 1937). Nicht umsonst wurde H. die nach Otto Wallach genannte Auszeichnung der Gesellschaft Deutscher Chemiker 1966 verliehen.

Bereits zum Ende des sechsten Semesters, im Juni 1915, bestand H. das 2. Verbandsexamen. Zu einer Doktorarbeit kam es damals aber nicht: Im November 1915 wurde H. zum Heer eingezogen. Vom August 1916 bis März 1918 befand er sich im Feld. Im Infanterieregiment 62 beteiligte er sich u. a. an der Schlacht an der Somme, an den Kämpfen in Russland und am Italienfeldzug. Beim Sturmangriff vor Arras wurde er verwundet. Im Alter fasste H. zusammen: „Meine Soldatenzeit hat mich gelehrt, mit Menschen aller Bevölkerungsschichten umzugehen… Dann hat sie mir noch eines gegeben…, nämlich, eine feste Gesundheit“ (Memoiren, 158).

Nach seiner Entlassung im November 1918 kehrte H. sofort an die Universität zurück und konnte sich schnell wieder einarbeiten. Der Nachfolger Wallachs, der spätere Nobelpreisträger Adolf Windaus (1876-1959) nahm ihn als seinen Doktoranden an und gab ihm „mit bewundernswertem Scharfsinn“ ein Thema, „das ganz meinen Neigungen entsprach“, so H. selbst (Antrittsrede, 1957, 22). Es handelte sich um Stereochemie, nämlich um Anwendungsmöglichkeiten der sog. Spannungstheorie auf das Ringsystem des Cholesterins. H. besaß ein hoch entwickeltes räumliches Vorstellungsvermögen, und stereochemische Fragestellungen bearbeitete er seitdem leidenschaftlich sein Leben lang. Im Juni 1920 legte H. seine Dissertation mit dem Gesuch vor, zum Doktorexamen in der Chemie als Hauptfach, Physikalische Chemie und Physik als Nebenfächer, zugelassen zu werden.

In seinem Gutachten schrieb Windaus: „Die Gesichtspunkte, die auf den Gang der Untersuchung von Einfluss gewesen sind, sind klar dargestellt, die experimentelle Durchführung ist fast überall gut und zuverlässig… Die Arbeit zeigt, dass Herr H. über die ihm gestellten Aufgaben nachdenkt und experimentelles Geschick besitzt“ (UA Göttingen, Promotionsakte H.). Windaus bewertete die Dissertation mit „sehr gut“. Das Rigorosum wurde auch „sehr gut“ bestanden.

Nach der Promotion blieb H. bei Windaus als Assistent und wandte sich nun einem allgemeineren stereochemischen Problem zu, nämlich: Inwieweit ist das durch van’t Hoff eingeführte „Kohlenstofftetraeder“ für die Konstruktion von Molekülmodellen brauchbar? Als Musterfall wählte H. die Frage nach der Existenz von zwei stereoisomeren Dekahydronaphtalinen, die Ernst Mohr (s. dort) aufgrund seiner theoretischen Forschungen vorausgesagt hatte. Windaus zeigte lebhaftes Interesse an diese Arbeit und unterstützte H. vielseitig.

Insbesondere veranlasste Windaus eine Beurlaubung H.s für SS 1922: Die Zeit von März bis September verbrachte H. in München als Volontärassistent bei dem berühmten Kasimir Fajans (s. dort), um seine Kenntnisse in der physikalischen Chemie zu vertiefen. Er beschäftigte sich dort insbesondere mit Verbrennungswärmen und Zusammenhängen zwischen Konstitution und physikalischen Eigenschaften organischer Verbindungen. Darüber publizierte er einige Artikel.

Nach dieser fruchtbaren Unterbrechung kehrte H. zurück zu seinen Synthesen. Im März 1923 hatte er die beiden angestrebten Isomere in Händen und konnte aus Anlass einer Chemiker-Tagung in Heidelberg dem schwer erkrankten Mohr persönlich die experimentelle Bestätigung seiner Voraussagen mitteilen.

Das galt und gilt als Anfang der modernen Stereochemie.

Aufgrund der erreichten Ergebnisse habilitierte sich H. im Juli desselben Jahres bei Windaus..

Als Privatdozent las er insbesondere über „Theorien der organischen Chemie“ und „Koordinationslehre“, aber auch „Über Katalyse“ und „Konstitution und physikalische Eigenschaften anorganischer und organischer Verbindungen“. Ende WS 1926/27 wurde H. zum a.o. Professor befördert.

Seine stereochemischen Arbeiten fanden bald Anerkennung. 1927 wurde H. auf ein planmäßiges Extraordinariat am Chemischen Institut der Universität Freiburg berufen. Er wurde zum Vorstand der organischen Abteilung bestimmt und konnte seine Forschungen erweitern auf die Geschwindigkeit einiger interessanter Reaktionen. Das erste Semester las er über theoretische organische Chemie, danach eine zweisemestrige Vorlesung über „spezielle organische Chemie“

1930 erfolgte seine Berufung auf den Lehrstuhl der Chemie an der Universität Greifswald. Zum ersten Mal selbständig, konnte H. das organisch-chemische Laboratorium für seine wissenschaftlichen Arbeiten passend einrichten. Gleichzeitig, als Direktor des gesamten. Chemischen Instituts, pflegte er insbesondere das Zusammenwirken zwischen organischer, physikalischer und anorganischer Chemie: Es bringt “allen Teilen Gewinn“, deklarierte H. in seinem Vortrag aus Anlass des 25jährigen Bestehens des neuen Chemischen Instituts in Greifswald (Angewandte Chemie, 45, 1932, 488).

In Greifswald publizierte H. die ersten zwei Auflagen seines klassisch gewordenen Werks „Theoretische Grundlagen der organischen Chemie“ (1931 und 1934-5).

Diese erfolgreichen Entwicklungen wurden durch die von oben erzwungene Versetzung H.s nach Breslau abgebrochen. Dabei musste H. zwei Professuren – je eine an der Universität bzw. an der TH Breslau – zugleich übernehmen, mit zwei veralteten Laboratorien. Diese lagen noch dazu weit auseinander und H. pendelte zu Fuß von dem einen zum anderen. Ende 1939 musste H. auch die Professur des Anorganikers Otto Ruff (1871-1939) an der TH übernehmen. Fast zehn Jahre in Breslau waren durch „die Willkür der damaligen Machthaber im Kulturministerium“ (1957, Antrittsrede, 24), durch den sehr ungünstigen Zustand der beiden veralteten Institute und den Mangel an Personal gekennzeichnet. Man muss sich wundern, dass H., mit einer Lehrtätigkeit ohne Helfer überlastet, dennoch eine Reihe wissenschaftlicher und literarischer Arbeiten durchführen konnte. In Breslau begann H. u.a. seine Terpen-Forschungen.

Im Januar 1945 gelang es H. seine Familie mit dem letzten Zug nach Göttingen zu seiner Mutter zu schicken. Er selbst musste dem bereits sinnlosen Befehl gehorchen, die Laboratorien nach Sagan zu evakuieren. Von Sagan konnte er nicht mehr nach Breslau zurückkehren und durfte sich deshalb nach Göttingen begeben. Sein Haus mit allem Hab und Gut war verloren.

Die Nachkriegszeit in Göttingen – „Leidens- und Hungerjahre 1945-1947“ bezeichnete H. sie in seinen Memoiren (UA Tübingen, 311, 599) – war für H. besonders schwierig. Zu der allgemeinen elenden Lage kamen zwei Tode – des Sohns Burkhardt und der Mutter hinzu. Dabei hatte er keine Stelle an der Universität. H. konnte jedoch eine längere Zeit für „FIAT-Review of German Science 1939-1946“ [FIAT = Field Information Agency, Technical] literarisch arbeiten und später auch in deutscher Sprache zwei Bände über „Theoretische organische Chemie“ in Deutschland während 1939-1946 verfassen und herausgeben. Außerdem war er als Berater bei der Firma Sartorius tätig. Noch mehr: er publizierte einen meisterhaft gestalteten Studienführer „Organische Chemie“ und bereitete ein umfangreiches Buch „Anorganische Strukturchemie“ vor, das in Göttingen fast vollendet wurde.

Dank der Bemühungen des alten Freundes und Wander-Kameraden Georg Wittig (s. dort) wurde H. nach Tübingen als Gastprofessor für WS 1947/48 und SS 1948 berufen, um Vorlesung über „Probleme aus der theoretischen organischen Chemie“ zu halten. Seine Familie blieb damals in Göttingen. Tübingen wurde die letzte Lebensstation H.s. Nach verschiedenem hin und her – man wollte nicht einen Chemiker anstatt eines Pharmazeuten auf dieser Stelle haben – entschied jedoch die Universität, H. auf den vakanten Lehrstuhl für Pharmazeutische Chemie zu berufen. H. konnte in Folgenden beweisen, dass diese Entscheidung richtig war.

Erstaunlich schnell arbeitete sich H. in das für ihn neue Gebiet ein, verfasste zweibändige „Vorlesungen über Pharmazeutische Chemie und Arzneimittelsynthese“, plante und überwachte den Neubau für das Pharmazeutisch-Chemisches Institut, das 1953 fertiggestellt und 1954 bezogen wurde. Das Institut rückte bald „durch personelle Besetzung und apparative Ausstattung in die erste Reihe Pharmazeutisch-Chemischer Hochschulinstitute“ (Neidlen, 1980, IV). H. betreute in seinem Institut zahlreiche Doktorarbeiten über Synthese, Analyse und chemische Eigenschaften verschiedener Klassen von Stoffen, die für die Pharmazie von Bedeutung waren oder werden könnten. Dabei verstand er es, die allgemein-chemischen und die eigentlich pharmazeutischen Fragestellungen miteinander zu vereinbaren.

1961 betonte H. in seiner Biographie über Otto Wallach, „wie fruchtbar gelegentlich der Zwang werden kann, auf einem ferner liegenden Gebiete unterrichten zu müssen“ (1961, O. Wallach, XXVIII). Offenbar meinte er dabei auch seine eigenen Erfahrungen.

Zu seiner Emeritierung im Jahr 1963 erhielt H. einen Fackelzug. Nun konnte er, ohne amtliche Verpflichtungen, mit einigen Mitarbeitern seine Arbeiten fortsetzen. „Nahezu täglich kam er ins Institut und nahm an dessen wissenschaftlichem Leben regen Anteil“ (Neidlen, 1980, V).

Der frühe Tod der einzigen Tochter im Jahr 1971 bedeutete für H. einen seelischen Schock, von dem er sich nicht mehr erholen konnte. Er starb nach jahrelangem Leiden. Seine „Hauptcharakterzüge waren unbedingtes Pflichtbewusstsein und außergewöhnliche menschliche Güte“ (E. Hückel, 1975, 154).

Das wissenschaftliche Erbe H.s ist vielfältig.

Einerseits stammen von ihm Hunderte von Experimentalarbeiten. „Die eigene Beobachtung ist die Grundlage jeder chemischen Forschung“, erklärte er angehenden Chemikern (1951, Einführung…, 10). Auch als 65jähriger hatte er am Experiment „eine kindliche Freude“ (Auterhoff, 1960, 144).

Die Experimentalforschungen H. s liegen hauptsächlich auf zwei Gebieten – Stereochemie und Mechanismen organischer Reaktionen. Denn stereochemische Arbeiten führten ihn „ganz von selber“ (1957, Antrittsrede, 22) zu Fragestellungen über den Verlauf von chemischen Reaktionen. Sehr charakteristisch ist, dass das Experimentieren H.s von Anfang an auf die Lösung einer theoretischen Frage gerichtet war – im Gegensatz zu der überwiegenden Mehrzahl damaliger Arbeiten in der organischen Chemie: diese gehörten entweder zu der analytischen Untersuchung von Naturstoffen oder zur Herstellung weiterer Derivate in bekannten Stoffklassen – ohne theoretischen Hintergrund.

Besonders intensiv erforschte H. Zusammenhänge zwischen Reaktivität und räumlichen Bau der Moleküle (ab 1926). Hinzu kamen insbesondere Untersuchungen über die sog. Waldensche Umkehrung (Umwandlung der Konfiguration eines asymmetrischen Kohlenstoff-Atoms in das optisch spiegelbildliche bei Substitutionsreaktionen).

Etwas abgesondert stehen wichtige Forschungen H.s über Hydrierung ungesättigter Kohlenwasserstoffe mit Alkalimetallen in flüssigem Ammoniak (18 Experimentalarbeiten ab 1939). In der heutigen Chemie werden diese Reaktionen als „Birch-Hückel-Reduktionen“ bezeichnet. Diese Arbeiten wurden durch theoretische Ergebnisse seines Bruders Erich angeregt, mit dem H. „stets in wissenschaftlichem Gedankenaustausch geblieben“ war (Memoiren, 279).

Eine andere Seite von H.s Erbe stellen seine literarischen Arbeiten dar. H. besaß eine ausgeprägte schriftstellerische Ader, der Umfang seiner Publikationen ist auf über 15000 Seiten zu schätzen. Freilich wurde diese enorme Produktivität durch H.s zur Legende gewordenes überragendes Gedächtnis erleichtert, ihr Grund lag aber in seinem inneren Bedürfnis, das sich stets entwickelnde Gesamtbild der Chemie immer wieder kritisch zu verarbeiten, sowie in seiner ausgeprägten Neigung, seine Kenntnisse zu vermitteln .

Einen umfangreichen Teil des literarischen Erbes H.s bilden seine zahlreichen und sehr mannigfaltigen Lehrbücher. Insbesondere erwarben seine „Vorlesungen über pharmazeutische Chemie“, die eine Lücke in der Fachliteratur füllten, viel Lob vonseiten der Pharmazeuten, Chemiker und Mediziner. Einige seiner Lehrmittel sind für Anfänger bestimmt und fallen durch ihr ausgezeichnetes didaktisches Niveau auf. So bietet sein Studienführer „Organische Chemie“ (1947) „auf knappstem Raum ein lebendiges und eindrucksvolles Bild von der Eigenart und Vielseitigkeit der organischen Chemie“, so eine Rezension (Die Naturwissenschaften 35, 1948, 319). H.s „Einführung in das Studium der Chemie“ (1951) ist noch heute lesenswert – vor Allem dank des klugen Überblicks, was eigentlich das Chemie-Studium bedeute, mit welchen Problemen der Student konfrontieren wird und wie sein zukünftiger Beruf aussehen könne. Auch die Einblicke in die einzelnen Gebiete der Chemie bleiben didaktisch interessant.

Ein weiterer Teil des literarischen Erbes H.s, der gewürdigt werden sollte, ist der Geschichte der Naturwissenschaft, vor Allem der Chemie, gewidmet. Dutzende Artikel über Chemiker, sowie Übersichtsartikel über Entwicklungen chemischer Begriffe oder einiger Forschungsgebiete sind sehr inhaltsreich und gehören bis heute zu den Fundgruben für Historiker der Naturwissenschaften. Auch in seinen eigentlich chemischen Arbeiten ist der historische Ansatz stets vorhanden, „weil es für jeden, der sich für das Werden wissenschaftlicher Erkenntnis interessiert, von Wert ist zu sehen, wie sich die… aufgestellten Theorien im Laufe der Zeit gewandelt haben und was von ihnen schließlich heute noch geblieben ist“ (Vorwort zum 2. Bd. von „Theoretischen Grundlagen der organischen Chemie, 6. u. 7.Aufl.).

Viele Publikationen H.s sind kritisch, oft gar polemisch zugespitzt. „Man wird sich vielleicht wundern, dass manches, was gewöhnlich als gesicherte Errungenschaft angesehen wird, nun wieder als ungelöstes Problem hingestellt erscheint unter Nichtanerkennung bisheriger Beweisführung“ (1931, Theoretische Grundlagen…, Bd. 1, V). Immer wieder, vom Ende der 1920er bis zum Ende 1960er Jahre griff H. kritische Betrachtungen auf von fundamentalen Begriffen der Chemie wie Konstitution, Valenz, chemische Bindung, Reaktivität in ihrer geschichtlichen Entwicklung und verwies auf die Anwendungsgrenzen dieser Begriffe.

Eine solche große Auseinandersetzung in diesem Sinne stellt vor Allem sein Hauptwerk, die zweibändigen „Theoretische Grundlagen der organischen Chemie“, dar. „Das Werk ist eine Leistung, die in ihrer Bedeutung weit über den [Rahmen] eines zusammenfassenden und berichtenden Buches hinausgeht. Es ist an vielen Stellen wegweisend für die kommende Forschung des Physikers und des Chemikers, und zwar nicht nur auf dem Gebiet organischer Verbindungen“ (B. Helferich, Angewandte Chemie, 45, 1932, 179). Tatsächlich erschienen die „Grundlagen“ als Pionierwerk für die organische Chemie weltweit, als Meilenstein in deren weiterer Entwicklung. Eine besondere Neuheit bestand in Abschnitten über chemische Bindung, wo insbesondere dank der Teilnahme des H.s Bruders Erich deren quantenchemische Grundlagen beschrieben wurden. „Es ist gewiss, dass ein Verständnis wichtiger chemischer Fragen nur auf Grund der modernen Quantentheorie zu gewinnen sein wird, und es wird deshalb auch für den organischen Chemiker nicht mehr möglich sein, an der neuesten Entwicklung der Atom- und Molekularphysik vorüberzugehen, auch dann nicht, wenn sie ihm für die Probleme, die er gerade behandelt, überflüssig erscheinen können“, deklarierte H. im Jahr 1935 („Theoretische Grundlagen, 2. Aufl., Bd. 2, 295). Die Zeit war aber noch nicht reif, die organische Chemie aufgrund der neuen Physik umzugestalten. Obwohl der Umfang des Werks bei weiteren Auflagen sich verdoppelte, sah H. sich gezwungen, die Entwicklungen in der Quantenchemie wegzulassen, „die ein normaler Chemiker nicht nachprüfen kann“ (Memoiren, 766).

Sein Werk bleibt in der Geschichte der Chemie aber nicht nur als ein monumentales Denkmal der „vor-quantenchemischen“ Ära, sondern auch als der erste und vielleicht der bedeutendste Beitrag dazu, dass letztendlich die moderne theoretische Chemie entstehen konnte.

Q UA Göttingen: Phil Prom HV,15 (Promotionsakte H.), Math Nat Prüf Pers Hückel(Habilitationsakte H.); UA Freiburg: B 24/1502 (Personalakte H.); UA Greifswald: Phil-Fak I-373, Bl. 125-155 (Berufung H.), PA 2527 (Personalbogen H.); Professorenalbum III, Bl. 69 (Angaben zur Person H.); UA Tübingen: 193/3663 - Personalakte des Rektorats; 201/917 - Personalakte der Mathematisch-Naturwiss. Fakultät (Personalakten H.); 311 (Teilnachlass H., insbesondere 311/1 – Memoiren H.s, Typoskript, 767 S. 40/101, 74; 126/30/ (Studenten- und
Personalakte Armand H.); UA Heidelberg: HAW 226 (Akte H. als Mitglied d. Heidelberger Akad. Wiss.); Auskünfte aus dem StadtA Tübingen vom 18.06.2014 u. StadtA Göttingen vom 30.06.2014.

W (Auswahl) D. Energie-Inhalt d. Polymethylenringe, in: Berichte d. Deutschen Chemischen Gesellschaft 53, 1920, 1277-1283; (mit A. Windaus) Anwendung d. Spannungstheorie auf das Ringsystem des Cholesterins, in: Nachrichten d. Königlichen Gesellschaft d. Wissenschaften zu Göttingen, Math.-physikal. Kl. 1921, 162-183; Die Bedeutung d. Atomkonstanten d. Verbrennungswärme u. d. Molekularrefraktion, in: Journal für praktische Chemie [2], 103, 1922, 241-248; Die Stereoisomerie des Dekahydronaphtalins u. seiner Derivate, in: Nachrichten von d. Gesellschaft d. Wissenschaften zu Göttingen, Math.-physikal. Kl., 1923, 43-56; Zur Stereochemie bicyclischer Ringsysteme. I. Die Stereoisomerie des Dekahydronaphtalins u. seiner Derivate, in: Liebigs Annalen d. Chemie 441, 1925, 1-48; Konfigurationsänderungen bei Substitutionen, in: Zs. für angewandte Chemie 39, 1926, 842-851; Über den Anwendungsbereich d. klassischen Stereochemie u, d. geometrischen Stereochemie Weßenbergs, in: Berichte d. Deutschen Chemischen Gesellschaft 59, 1926, 2826-2838; Katalyse mit kolloiden Metallen, 1927; D. gegenwärtige Stand d. Spannungstheorie, in: Fortschritte d. Chemie, Physik u. physikalischen Chemie 19, 1927, 239-343; Theoretische Grundlagen d. organischen Chemie, Bd. 1, 2, 1931, 21934 u. 1935, 31940 u. 1941, 41943, 51944 u. 1948, 61949 u.1954, 71952 u.1954; 81956 u. 1957, 91961; (mit Erich Hückel) Theory of induced polarities in benzene, in: Nature 129, 1932, 937f.; Molekülbau und Reaktionsgeschwindigkeit, in: Berichte d. Deutschen Chemischen Gesellschaft, 67A, 1934, 129-138; Lehrbuch d. Chemie: T. 1 Anorganische Chemie, T. 2 Organische Chemie, 1936-1937, 21940-1941, 31943, 41949, 51952 u. 1954, 61955; 71957;

(mit F. Nerdel) Änderungen des Molekülbaus bei chemischen Reaktionen. III. Die Umsetzung von Bornylamin u. Isobornylamin mit salpetriger Säure, in: Liebigs Annalen d. Chemie 528, 1937, 57-73; Zur Theorie d. sterischen Hinderung, in: Zs. für physikalische Chemie A, 178, 1937, 113-122; Die Stellung d. organischen u. physikalischen Chemie zueinander im Wandel d. Zeiten, in: Zs. für den physikalischen u. chemischen Unterricht 51, 1938, 78-83, 120-123; Zur Kenntnis d. Waldenschen Umkehrung, in: Liebigs Annalen d. Chemie 533, 1938, 1-45; (mit H. Havekoss u. a.) Molekülbau u. Reaktionsgeschwindigkeit, ebd., 129-171; Über den Geltungsbereich d. Arrheniusschen Beziehung bei Reaktionen in Lösungen, in: Zs. für physikalische Chemie A, 189, 1939, 313-320; Umsetzungen von ungesättigten u. mehrkernigen aromatischen Kohlenwasserstoffen mit Natrium u. Calcium in flüssigem Ammoniak, in: Liebigs Annalen d, Chemie 540, 1939, 157-189; Substitution, Addition u. Abspaltung, in: Angewandte Chemie 53, 1940, 49-54; Otto Ruff, 1871-1939, in: Berichte d. Deutschen Chemischen Gesellschaft, 73A, 1940, 125-145; Die Umlagerungen des Pinens, in: Nachrichten von d. Akad. d. Wiss. In Göttingen, 1941, Math.-Physikal. Kl., 59-75; Konfigurative Beziehungen in d. Terpenreihe, in: Journal für praktische Chemie [2] 157, 1941, 225-237; Neue Ziele in d. Terpenchemie, in: Die Chemie 55, 1942, 227-232; Aus d. Geschichte d. Terpenchemie, in: Die Naturwissenschaften, 30, 1942, 17-30; D. Wertigkeitsbegriff, in: Journal für praktische Chemie [2] 161, 1943, 241-260; Adolf Windaus‘ Bedeutung für die organische Chemie, in: Angewandte Chemie 59, 1947, 185-188; Anorganische Strukturchemie, 1948; Neues aus d. theoretischen organischen Chemie, in: Naturwissenschaftliche Rundschau 1, 1948, 56-61; D. Strukturgedanke in d. Chemie, ebd., 2, 1949, 441-445; Einführung in das Studium der Chemie, 1951; Theoretische organische Chemie (Naturforschung u. Medizin in Deutschland, Bde. 34 u. 35), 1953; Vorlesungen über pharmazeutische Chemie u. Arzneimittelsynthese, Bd. I: Anorganischer Teil, Bd. II: Organischer Teil, 1954; 21961; Antrittsrede, in: Jahresheft d. Heidelberger Akad. d. Wiss. 1957/58, 21-25; Die Chemische Bindung. Kritische Betrachtung d. Systematik, d. Ausdruckweisen u. d. formelmäßigen Darstellung, in: Journal für praktische Chemie [4] 5, 1958, 105-174; Paul Walden, 1863-1957, in: Chemische Berichte 94A, 1958, XIX-LXVI; (mit R. Rosmus) Gegenseitige Löslichkeitsbeeinflussung bei Kombinationen von Salicylaten zweiwertiger Metalle mit Pyramidon u. Antipyrin, in: Archiv d. Pharmazie, 293, 1960, 159-169; Otto Wallach, 1847-1931, in: Chemische Berichte, 94, 1961, VII-XCIII; Terpene, In: Ullmanns Encyklopädie d. technischen Chemie, 3. Aufl., 16. Bd., 1965, 756-767; Participation, assistance, transition state, intermediate, in: Journal für praktische Chemie [4] 32, 1966, 320-336; Über die Grenzen einer sinnvollen Anwendung des Mesomerie- u. des Resonanzbegriffes, ebd, 33, 1966, 5-38; Reduktion von Kohlenwasserstoffen durch Metalle in flüssigem Ammoniak, in: Fortschritte d. chemischen Forschung 6, 1966, 197-250; 100 Jahre Geschichte d. Berichte, in: Chemische Berichte 100, 1967, I-XXXIX, 2778; Die Entwicklung d. Hypothese vom nichtklassischen Ion: Eine historisch-kritische Studie, in: Sitzungsberichte d. Heidelberger Akad. d. Wiss., Math.-naturwiss. Kl., 1967/68, 5. Abhandlung, 1-53;

L Poggendorffs Biographisch-literarisches Handwörterbuch, VI, Teil 2, 1937, 1173f., VIIa, Teil 2, 1958, 564-566, VIII, Teil 2, 2002, 1562f.; DBE, 2. Aufl. 5, 2006, 192; Lexikon bedeutender Chemiker, 1989, 214f.; R. E. Oesper, W. H., in: Journal of Chemical Education 28, 1950, 625 (B); O. Neunhoeffer, Zum 60. Geburtstag von Prof. Dr. W. H. in: Arzneimittelforschung 5, 1955, 103f.; Anonym, W. H., in: Nachrichten aus Chemie u. Technik 8, 1960, 35f. (B); H. Auterhoff, Zum 65. Geburtstag von Professor Dr. W. H., in: Arzneimittelforschung 10, 1960, 143f. (B); Anonym, Prof. Dr. W. H. 65 Jahre, in: Pharmazeutische Ztg. 105, 1960, 204f.; M. H.-C. M. J., Professor Dr. Dr. h.c. W. H., Tübingen, 70 Jahre, in: Deutsche Apotheker-Zeitung 105, 1965, 215f.(B); O.-E- Schultz, Prof. Dr. Dr. h. c. W. H., Tübingen, Ehrendoktor d. Kieler Universität, 70 Jahre, in: Pharmazeutische Ztg. 110, 1965, 213 (B); W. Luck, W. H. +, in: Physikalische Blätter 29, 1973, 232; H. Auterhoff, In memoriam Professor Dr. Dr h. c. mult. W. H., in: Arzneimittek-Forschung 23, 1973, 486 (B); Erich Hückel, Ein Gelehrtenleben, 1975; R. Neidlein, M. Hanack, W. H., 1895-1973, in: Chemische Berichte 111, 1980, I-XXVIII (B, W);

B Vgl. L